Giftweizen
achtete sie auf alles mit zwei Rädern, obwohl sie eigentlich überzeugt war, dass Hella und Eduard Singer, wenn sie aus der Gegend verschwinden wollten, jetzt wohl kaum auf den Landstraßen zwischen Gardelegen und ihrem Heimatdorf unterwegs sein würden. Und richtig – die von ihr registrierten Motorräder waren nur mit einer Person besetzt, und bei manchem Fahrer hätte Judith wegen des geschlossenen Helmes und der Bekleidung ohnehin nicht erkannt, wer sich unter der Montur befand.
Nach zwanzig Minuten war sie vor Ort, stieg aus dem Wagen und konnte mit einem Mal trotz ihrer Sorgen entspannt lächeln.
Walter begrüßte sie vor dem Haus der Singers, lässig wie ein Cowboy an ein altes, wuchtiges Motorrad gelehnt und an einen imaginären Hut tippend. »Kommen Sie, Frau Hauptkommissarin«, rief er ihr zu, »reiten wir gleich in den Wald.«
»Woher stammt denn dieser Feuerstuhl?«, staunte Judith und war froh, mit Jeans und Halbschuhen robust genug für eine Motorradfahrt gekleidet zu sein.
»Der stand bei Manfred Lange in der Scheune, immer für Notfälle einsatzbereit, wie er mir sagte. Er selbst ist vorhin mit seinem Mofa losgefahren und wartet bei den Bienenhäusern auf uns. Wir können also diesem Gaul die Sporen geben. Als seine Chefin musst du Lange für seine Weitsicht unbedingt belobigen«, schlug Walter in aufgeräumter Stimmung vor. Er freute sich auf die kleine Motorradtour mit Judith auf dem Sozius, auch wenn die Umstände außergewöhnlich waren.
»Da überlege ich mir auf jeden Fall etwas. Doch wen lassen wir hier, bis Ritter kommt? Wenn wir beide wegfahren, ist das Haus der Singers wieder unbewacht.«
Aber der Breitenfelder Polizist hatte auch dafür vorgesorgt. Walter informierte Judith: »Lange hat seinem Sohn Bescheid gesagt. Der ist neunzehn Jahre alt und Freiwilliger Helfer bei der Volkspolizei. Er übernimmt die Wache. Ewig wird die Spurensicherung doch nicht mehr brauchen?«, vergewisserte sich Walter und sah erwartungsvoll die holperige Dorfstraße hinauf.
Nach wenigen Augenblicken erschien Lange Junior, ein kräftiger, imposanter Kerl. Selbstbewusst nahm er seinen Wachposten im Auto des Waldauer Ortspolizisten ein.
Walter und Judith knatterten los.
Diesmal nahm Walter keine Rücksicht auf die Natur. Er fuhr am etwas festeren Rand des Sandweges und so manches Pflänzchen wurde dabei überrollt. Ein winziges Tier mit glänzendem braunen Fell schaffte es gerade noch so, sich vor den breiten Reifen des Motorrades in die Brombeerbüsche des Unterholzes zu retten.
Walter hielt an derselben Stelle wie vor knapp anderthalb Stunden. Er nahm wieder den kürzesten Weg und Judith folgte ihm.
An der Lichtung angekommen, sah sie sich aufmerksam um. Es war ein schöner, windgeschützter Ort, und obwohl die Sonne den Boden nicht mehr überall erreichte, war es noch hell genug, um Einzelheiten zu erkennen.
Manfred Lange, der auf einem ausrangierten Holzkasten neben dem rechten Wagen gehockt hatte, stand auf und begrüßte seine Vorgesetzte vorschriftsmäßig.
Judith Brunner grüßte zurück und bedankte sich freundlich für die umsichtige Hilfe des Dorfpolizisten.
Das Lob war aufrichtig gemeint und Lange spürte das. Verlegen rieb er sich die Hände an seiner Uniformjacke.
Unterdessen bemerkte Walter Dreyer etwas, das ihm bei seinem ersten Besuch am Nachmittag gar nicht aufgefallen war: Er hörte kein Summen. »Wo sind die Bienen?«, fragte er sich laut.
»Die hat er dieses Jahr weggegeben«, wusste Manfred Lange.
»Sie kennen den Imker wohl?«, hoffte Judith Brunner. Gab es einen neuen Akteur um das mörderische Geschehen? Singers Auferstehung von den Toten hatte sowieso alle bisherigen Gedankenspiele infrage gestellt.
»Ja, ein wenig«, bestätigte Lange. »Der steht schon eine Ewigkeit mit seinen Wagen hier, doch für dieses Jahr hat er seine Völker zum Imkerverein nach Klötze in Pflege gegeben. Vielleicht rappelt er sich noch mal auf und macht im nächsten Jahr weiter. Der Honig von hier war immer schön cremig.«
Das glaubte Walter gern. »Erinnerst du dich, seit wann die Wagen leer stehen?«
Lange nickte bedächtig. »Na so ungefähr. Die Bienen waren schon vor dem Winter nicht mehr da.«
»Haben Sie Eduard Singer mal zusammen mit dem Imker gesehen?«, wollte Judith Brunner wissen.
»Nein, nicht dass ich mich erinnern könnte. So oft bin ich nicht im Wald unterwegs. Nur ein- bis zweimal im Jahr. Da traf ich den Imker immer nur alleine an«, gab Lange bedauernd wieder.
Während des Gesprächs hatte
Weitere Kostenlose Bücher