Giftweizen
natürlich jeden Grund, Otto Holl zu hassen.« Was würde er nicht alles tun, wenn Judith einem so brutalen Kerl in die Hände gefallen wäre? Ihm das Herz bei lebendigem Leibe rausreißen? Ihn langsam am Spieß grillen? Ihm fielen sicher noch zivilisiertere Methoden ein.
»Und? Was ist mit dem anderen, von dem wir nur die Hände haben?«, fragte Ritter mit Nachdruck und holte damit Walter aus seinen lebhaften Fantasien.
»Er war vielleicht ebenfalls ein Komplize Holls. Laut Aktenlage gab es eine ganze Bande. Da er auf die gleiche Weise vergiftet wurde, scheint einiges darauf hinzudeuten«, führte Judith sachlich aus.
Vom Hausflur aus hörten sie den Breitenfelder Kollegen rufen: »Ich habe die Nachbarinnen hier, Frau Hauptkommissarin.«
Ritter fragte: »Soll ich mich vorerst woanders umsehen?«
Judith fürchtete einen Atemzug lang, ihm sei der vertraute Blickwechsel zwischen ihr und Walter aufgefallen, doch dann deutete Thomas Ritter auf den runden Tisch im Zimmer und meinte: »Ich will Sie beim Gespräch nicht stören. Soll ich noch einen Stuhl dazu stellen?«, bot er hilfsbereit an.
Sie nickte ihm erleichtert zu.
Dann gab sie Walter einen Wink. »Bitten Sie die drei herein.«
Lange kam als Erster ins Zimmer, hinter ihm die Frau, die Judith Brunner schon kannte, und dann eine weitere, wesentlich ältere Dorfbewohnerin. Beide Frauen trugen über ihren schmucklosen Trägerkleidern aus leichtem Stoff wollene Strickjacken in gedeckten Farben. Sie sahen sich unsicher um.
Walter Dreyer verschwand, um sich bei der Durchsuchung des Singerschen Wohnhauses in den anderen Zimmern nützlich zu machen.
Judith Brunner stellte sich der älteren Frau vor und führte beide zum Tisch. »Nehmen Sie Platz, bitte. Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«
Die sahen sich kurz an und setzten sich zögernd auf die Stühle. Sie fühlten sich in dem Raum in Abwesenheit der Hausherrin offensichtlich nicht wohl.
»Was ist mit Hella?«, fragte die jüngere, die Judith Brunner schon als Anneliese kannte.
»Wieso sollte etwas mit ihr sein?«, gab die Kommissarin, ohne mit einer Wimper zu zucken, zurück.
»Was macht denn die Polizei sonst in ihrem Haus? Sie waren doch neulich schon da; ich hab Sie gleich erkannt. Geht es Hella gut? Haben Sie den Eduard endlich wiedergefunden?«
Judith Brunner horchte auf. Offenbar hatte Hella Singer ihren Nachbarinnen von dem Verschwinden des Leichnams ihres Mannes berichtet! Judith musste sich gut überlegen, wie sie nun das Gespräch weiter führte. Möglicherweise waren die Frauen sogar in die Fluchtpläne der Singers eingeweiht und sie durfte keinesfalls erkennen lassen, was die Polizei schon wusste oder zumindest vermutete. »Davon gehen wir aus ... Ich denke, es ist besser, wir machen es so«, schlug sie dann zielgerichtet vor: »Ich erkläre Ihnen kurz die Situation. Dann möchte ich Ihnen einige Fragen stellen und dann sehen wir uns gemeinsam im Haus um. Und Herr Lange, den Sie beide gut kennen, macht sich Notizen zu unserem Gespräch.«
Die Frauen sahen nun noch besorgter aus.
Manfred Lange nahm ebenfalls Platz, holte einen kleinen Schreibblock aus seiner Uniformjackentasche und zückte einen Kugelschreiber.
Judith Brunner begann: »Zunächst möchte ich Ihnen danken, dass Sie sich gleich die Zeit genommen haben, herzukommen, Frau ...?«
Anneliese reagierte: »Graf. Anneliese Graf. Und das ist Meta Teichert.«
Lange nickte bestätigend und Judith Brunner fuhr fort: »Heute Nachmittag wollte ein Kollege Frau Singer etwas fragen. Leider hat er sie nur noch von Ferne wegfahren sehen und wir gehen inzwischen davon aus, dass sie so bald nicht wiederkommt. Wir müssen sie aber dringend befragen. Und ich habe Sie hergebeten, weil wir uns von Ihnen einen Hinweis erhoffen, wohin sie gefahren sein könnte.«
»Hella ist weg?« Anneliese Graf sah ihre Nachbarin ungläubig an.
Auch Meta Teichert war ratlos. »Mir hat sie nichts gesagt! Warum sollte sie verreisen? Sie wollte doch den Eduard ...«
»Ja?«, forderte Judith Brunner interessiert zum Weiterreden auf.
»Na, wenn Sie ihn wieder haben, wollte Hella ihn endlich beerdigen. Warum fährt sie denn dann weg?«
»Hm, wann haben Sie eigentlich zuletzt mit Frau Singer gesprochen?«
Jetzt antwortete Anneliese Graf: »Heute Morgen noch, wir sind uns beim Einkaufen begegnet. Meta war dabei und noch ein paar Frauen.«
Lange bat um die Namen und notierte sie akribisch.
Judith Brunner musste sicher sein: »Hella Singer hat sich also nicht von Ihnen verabschiedet? Oder um
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