Giftweizen
außerdem nicht feucht.« Vorsichtig begann Dr. Renz, mit einer langen Pinzette auf den Handschuhen herumzustechen. »Weich. Das Gewebe gibt nach.« Als er auf die einzelnen Finger des rechten Handschuhs piekste, stieß er weder bei der ledernen Spitze des Ringfingers noch bei der des kleinen Fingers auf den erwarteten Widerstand. Dr. Renz kam sehr langsam wieder hoch.
Judith konnte in seinem ernsten Blick dieselbe schlimme Ahnung lesen, die auch sie ergriff.
~ 8 ~
Nach diesem ereignisreichen Vormittag trennten sich zunächst die Wege der Ermittler.
Dr. Renz war mit den sicher in seiner Kühltasche verwahrten Händen zurück nach Gardelegen gefahren und wollte schnellstmöglich mit ihrer Untersuchung beginnen. Auch die Arbeit an den drei Leichen wartete noch auf ihn.
Thomas Ritter und sein Mitarbeiter blieben am Ferchel, wo sie noch eine geraume Weile zu tun haben würden. Judith Brunner hatte außerdem Verstärkung angefordert, damit im Wald und der näheren Umgebung nach Spuren, weiteren Teilen der Leiche oder sonstigen Auffälligkeiten gesucht werden konnte. Selbst ihr Dienstfahrzeug wurde gebraucht, um die nähergelegenen Straßen und Wege schnellstmöglich zu kontrollieren. Ritter sollte die neuen Leute einweisen und koordinieren.
Walter Dreyer kutschierte seinen Wagen mit Botho Ahlsens, Judith Brunner und Laura Perch an Bord zurück nach Waldau.
Judith hatte vorgeschlagen, eine erste Erörterung der Ereignisse mit einem stärkenden Mittagessen im Gasthof »Zur Altmärkischen Schweiz« zu verbinden. Der Name des traditionsreichen Hauses wurde selbst von wohlmeinenden Durchreisenden eher dem Überschwang der örtlichen Folklore zugeschrieben, aber er hatte seine Berechtigung. War es doch seit Langem üblich, die Gegend rings um Waldau als Altmärkische Schweiz zu bezeichnen, und Walter wurde nicht müde, Judith voller Stolz und bei jeder passenden Gelegenheit von der Richtigkeit dieses hohen landschaftlichen Anspruches zu überzeugen. Diesen Umstand hatte sich seinerzeit auch der Gründer der gleichnamigen Waldauer Gastwirtschaft zunutze gemacht, obwohl es in deren Sichtweite statt hoher Berge und imposanter Bergseen nur einen eher bescheidenen Dorfteich gab.
Botho Ahlsens schlug Judith Brunners Einladung zum Essen aus, da er dringend Ruhe brauchte. Irgendwie nahmen ihn die Erlebnisse des Vormittags mehr mit, als er sich selbst zunächst eingestehen wollte.
So saßen Judith, Laura und Walter nun zu dritt an einem der Tische unter den alten Kastanienbäumen, deren zartgrünes Blätterdach im hellen Sonnenschein eine fast unwirklich leuchtende Lichtglocke bildete.
Außer ihrem waren an diesem späten Freitagmittag nur noch zwei weitere Tische besetzt: An einem, direkt neben dem Eingang, saßen zwei Männer im Anzug, die völlig erschöpft und verschwitzt aussahen und in irgendwelchen Papieren blätterten. Walter meinte, sie als Mitarbeiter einer Straßenbauverwaltung wiederzuerkennen. Er wusste nur nicht, ob es die vom Kreis oder aus dem Bezirk waren. Es gab Gerüchte, dass Waldau eine neue Straße bekommen würde, die die alte, kurvige Wegführung um den Kirchhof herum begradigen sollte. Ob das den Aufwand tatsächlich lohnte? Trotz der Wärme hatten die Baubürokraten nicht abgelegt, bloß die Kragenknöpfe geöffnet und die Schlipse etwas gelockert. Für wen sie wohl die Form wahren wollten? Oder hatten sie ihren Termin noch vor sich? Jedenfalls begannen sie, erregt zu debattieren und auf irgendwelche Zeichnungen zu deuten.
Walter blickte sich weiter um. Den anderen Tisch, hinten zum Hof hin, nutzte eine Familie mit zwei noch recht kleinen Kindern. Die jungen Eltern trugen legere Kleidung und saßen entspannt bei Cola und Bier. Auf und um den Tisch herum war zahlreiches, buntes Spielzeug verteilt und der gelassene, freundliche Umgang miteinander deutete darauf hin, dass die vier hier Urlaub machten.
Damit sie ungestört reden konnten, hatte Judith einen Tisch an der äußersten Ecke des Kastaniengartens ausgesucht und alle drei wandten sich zunächst dem naheliegendsten Problem zu: Was wollten sie essen? Die Speisekarte mit traditioneller altmärkischer Küche war ihnen hinlänglich bekannt und musste deswegen nicht studiert werden. Wolfgang Merker, der Wirt, legte keinen Wert auf große Veränderungen seines Angebots – und seine Kundschaft offenbar auch nicht. Die Gäste waren stets satt und zufrieden von dannen gezogen. Heute entschieden sie sich kurz entschlossen für das Tagesangebot: paniertes
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