Giftweizen
ein Flüstern, denn der Wirt näherte sich. Erwartungsvoll sah er seinem Kotelett entgegen.
Merker stellte die übervollen Teller vor ihnen ab und wünschte guten Appetit. Der war vorhanden, und sie begannen, nach einem kurzen »Lasst es euch schmecken!«, sich das Essen munden zu lassen.
Als der erste Hunger gestillt war, forderte Laura beharrlich: »Ich möchte immer noch wissen, was hier los ist!«
»Also, hört zu«, begann Judith, »heute Morgen rief mich Dr. Renz an. Er hat eine falsche Leiche in der Pathologie.« Und ohne ihr Essen zu vernachlässigen, gelang es Judith, ihren beiden Tischgenossen das Problem des fehlenden beziehungsweise vertauschten Leichnams schlüssig zu schildern. »Deswegen schaute Dr. Renz so vielsagend, als er bemerkte, dass der rechte Handschuh keine Füllung in den beiden Fingerspitzen aufwies«, schloss sie ihren Bericht und steckte sich dabei das letzte Röschen Blumenkohl in den Mund.
Ihre Zuhörer waren sich einig: »Schlamassel trifft es wirklich gut«, meinte Laura und Walter nickte, bevor er sich nochmals vergewisserte: »Es fehlt also ein toter Mann aus dem Krankenhaus, Eduard Singer, dessen Hände Botho Ahlsens gefunden hat. Dafür liegt dort einer in der Pathologie, den niemand kennt, und der irgendwann einmal angeschossen worden ist. Hm, Singer, Singer ...?«, Walter überlegte, ob der Name ihm etwas sagte.
»Er wohnte in Breitenfeld«, half Judith.
Walters Überlegungen wurden kurz unterbrochen; Merker räumte die leeren Teller ab.
Judith orderte noch drei Mokka.
»In Breitenfeld? Ach, richtig!« Walter wusste nun, wer gemeint war.
Die kleinen Gemeinden rund um Waldau hatten nur wenige Einwohner und irgendwann hörte man voneinander oder lief sich über den Weg, das ließ sich gar nicht vermeiden.
»Ich kannte ihn nur flüchtig vom Sehen und Grüßen, so ein drahtiger, wacher Typ, ungefähr Ende sechzig. Er wohnte dort mit seiner Frau. Hella, stimmt’s?«
»Richtig«, bestätigte Judith.
Walter fuhr fort: »Wird schwer für sie werden ohne ihn. Die beiden kamen offensichtlich gut miteinander zurecht. Zumindest war das mein Eindruck. Ein hübsches Häuschen am Dorfrand. Ich muss immer dran vorbei, wenn ich in den Wald zu meiner geheimen Fundstelle für Krause Glucken will.« Und mit gespielter Ernsthaftigkeit ergänzte er: »Deswegen verweigere ich auch weitere Auskünfte.«
Judith war nun lange genug in der Altmark, um sich über geheime Krause Glucken nicht mehr zu wundern, zumal Walter ihr bereits eine delikate Suppe daraus gekocht hatte. Auf den Spaziergang, um den kohlkopfgroßen Pilz zu ernten, hatte er sie allerdings schon damals unter Hinweis auf seine Verschwiegenheitspflicht nicht mitgenommen.
»Eduard und Hella Singer. Schöne Namen«, fand Laura. Sie hatte von den beiden bisher nie gehört.
»Was sagen wir seiner Frau?«, wandte sich Walter nüchtern den kommenden Aufgaben zu.
Judith blieb in dieser Frage noch zurückhaltend: »Wir warten besser noch, bis wir mit ihr reden. Ich will genau wissen, was wir haben, bevor ich ihr von ihrem verschwundenen Mann und den Verstümmelungen erzähle. Dr. Renz wird sicher so rasch es geht arbeiten.«
Der Mokka kam und schon der Duft des starken Kaffees vertrieb ihre Mittagsmüdigkeit. Walter schaffte es, in seiner winzigen Tasse noch drei Teelöffel Zucker langsam unterzurühren, ohne dass etwas überlief. Er wurde mit einem köstlichen ersten Schluck belohnt!
»Wieso findet Botho Ahlsens die Hände von Eduard Singer?« Judiths Frage, bei der sie die Namen der beiden Männer überdeutlich betonte, holte Walter aus seinem genüsslichen Tagtraum zurück.
»Wir sind uns also darin einig, dass die abgetrennten Hände nicht zufällig da lagen«, schlussfolgerte er. Doch die konsequente Sicht auf die Dinge erschreckte Walter mehr, als ihm lieb war. Wer mutet so einen Fund einem anderen zu? Und warum?
Laura meinte nachdenklich: »Um zu erreichen, dass ausgerechnet Botho Ahlsens die Hände findet, hätte jemand entweder von seinem Spaziergang und der genauen Wanderroute wissen müssen – oder jemand musste ihn den ganzen Morgen über beobachten, um die Handschuhe in einem geeigneten Moment ablegen zu können. Die Observationsvariante scheint mir beim offenen Gelände am Ferchel fast unmöglich.«
Walter spekulierte noch weiter: »Vielleicht gibt es sogar einen Zusammenhang zwischen den beiden und Botho Ahlsens kannte den Vermissten? Er und Eduard Singer sind immerhin eine Generation. Und Breitenfeld ist fast unser
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