Giftweizen
die Küche hatte die Gemeinde einen Gasherd bereitgestellt, und nach einem wenig aufwendigen Umzug – was hatten sie schon mitzunehmen – konnten die Bauers endlich aufatmen und einen zweiten Neustart versuchen.
Den Kindern gelang das mühelos. Walter Dreyer, der sie bei seinen Rundgängen im Dorf fast täglich traf, war erstaunt, wie unbeeindruckt die beiden die Geschehnisse verkraftet hatten. Leider konnte ihre zierliche Mutter ihre Angst nicht so leicht abschütteln, und die bezog sich nicht nur auf das Schicksal der Kinder, sondern irgendwie auch auf ihr zurückhaltendes Verhältnis zu Leon. Elvira Bauer schien immer noch kaum glauben zu können, dass seine selbstlose Unterstützung und leidenschaftliche Hingabe zu ihr und den Kindern Realität waren. Sie nahm beides hin, freute sich unermesslich, traute dem Glück jedoch nicht. Walter Dreyer hoffte sehr, dass sie es irgendwann schaffen würde, Leons uneigennützige Liebe annehmen zu können.
»Onkel Walter?«, machte sich der Kleine bemerkbar und rief Walter aus seinen Grübeleien zurück. Er stand auf und nahm Fritzi auf den Arm. Sie drückten sich. Dann ließ er den Jungen wieder runter.
»Wofür brauchst du denn ein Versteck? Spielst du hier mit jemandem Suchen?« Walter Dreyer hatte keine anderen Kinder in der Nähe bemerkt. Der Gedanke, Fritzi allein herumstrolchen zu sehen, bereitete ihm immer noch Unbehagen. Außerdem nutzten die Kinder im Dorf zum Versteckspielen meistens den Gutspark oder die Gegend um den Dorfplatz.
Fritzi schüttelte den Kopf und flüsterte: »Für ein Geschenk.«
»Ein Geschenk! Was ist es denn?«
Der Junge griff in seine Hosentasche und holte eine kleine blau-weiß-schwarz gestreifte Feder hervor. Ein Eichelhäher hatte sie verloren. Allerdings sah sie durch den Transport in der Hosentasche etwas zerzaust aus.
»Die ist aber schön. Für wen ist die denn?« Walter nahm die Feder in die Hand und zeigte Fritzi, wie man die Federäste vorsichtig wieder aneinanderfügen konnte.
»Die ist für Mama. Wenn sie mal wieder traurig ist oder krank. Dann bekommt Mama die Feder. Leon hat ihr auch mal eine geschenkt und da hat sie ihn geküsst und sich gefreut. Sie war gleich wieder lustig.«
Walter war gerührt von der Fürsorge des Kleinen. Fritzi liebte seine Mutter über alles und Leon war sein Held.
»Du kannst die Feder hinter deine Bilderbücher im Regal legen, da findet sie bestimmt niemand. Oder du steckst sie unter den Pullover von deinem großen Teddy«, riet er Fritzi, »doch wichtig ist, dass du selber das Versteck nicht vergisst.«
Beide Vorschläge wurden überdacht. Offenbar kam Fritzi so rasch zu keiner abschließenden Entscheidung, wirkte aber trotzdem erleichtert.
»Was machst du eigentlich so allein hier am Friedhof?«, wollte Walter dann sicherheitshalber wissen.
Verlegen schaute Fritzi ihn an. Einen Polizisten durfte man nicht beschwindeln, also gestand er: »Ich bin dir wie ein Indianer hinterhergeschlichen, als ich dich vom Fenster aus gesehen habe. Ich musste dich doch fragen!«, rechtfertigte er seine Verfolgung.
»Dann setz dich mal auf mein lahmes Pferd, ich bringe dich zurück nach Hause«, bot er dem Kleinen an, der juchzend auf den Sattel kletterte. »Halt dich gut an mir fest«, forderte Walter und schob das Fahrrad eine kleine Extrarunde, um zur großen Freude Fritzis die eigentlich recht kurze Strecke zum Wohnhaus der Bauers zu verlängern.
~ 20 ~
Gegen halb vier hatten sich alle wieder im Besprechungszimmer eingefunden.
Judith Brunner begann, von Dr. Renz’ Anruf während ihres Besuches bei Botho Ahlsens und von Ahlsens Kenntnissen im Pflanzenschutz zu berichten.
Obwohl die Informationen alle beeindruckten, meinte Dr. Grede: »Mir ist das Spezialisten-Motiv zu dünn. Irgendwie auch zu fein konstruiert. Die Fakten sind meines Erachtens nach handfester: abgetrennte Gliedmaßen beziehungsweise verstümmelter Leichnam – je nach Sichtweise. Das sieht mir sehr nach einer Botschaft oder gar nach Rache aus.«
Ritter nickte zustimmend. »Mächtig dünn. Rache passt besser.«
Judith Brunner wollte sich nicht so leicht überstimmen lassen. Sie fragte nach: »Rache an wem? Eduard Singer? Hella Singer? Botho Ahlsens? Dem toten Unbekannten?«
Dr. Grede war zuversichtlich: »Das werden wir schon noch herausfinden.«
»Sie erinnern sich doch alle an Laura Perch, die Archivarin«, erweiterte Judith Brunner dann die Motivdiskussion und erzählte von den Möglichkeiten, die sich unter Berücksichtigung der Symbolik von
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