Giftweizen
Bücherstapeln aufrecht auf mehreren Blättern weißen Schreibpapiers hockte, den Schwanz vornehm um die zusammengestellten Pfoten gelegt. Laura schlug etwas in einem dicken Buch nach, das wohl, so viel konnte Judith von der Tür aus erkennen, ein älteres Exemplar war: derbes Papier, zweispaltiger Druck und abgenutzte Einbandecken.
»Hallo«, lächelte Judith matt zur Begrüßung. »Fleißig? Ich will auch gar nicht stören.«
Letztere Bemerkung schien zumindest Wilhelmina wenig überzeugend, denn sie ahnte, dass es mit der blätterraschelnden Gemütlichkeit zunächst vorbei war.
Laura hingegen war hocherfreut. »Von wegen stören! Du kommst genau richtig. Ich wollte dir nämlich sowieso etwas erzählen.«
»Ach! Was denn?«
Als Antwort knurrte Lauras Magen vernehmlich. »Tut mir leid, ich hab ganz vergessen, zu essen. Wollen wir uns rasch ein paar Bratwürste machen?« Sie begann, ihre Unterlagen vom Tisch zu räumen, und stapelte die Bücher ins Fensterbrett.
Judith hatte absolut nichts dagegen. Ihre letzte Mahlzeit lag schon lange zurück, und wie sie wusste, war Essen schon immer ein guter Seelentröster. Sie staunte, als Laura ein Weckglas aus dem Keller holte. Eingekochte Bratwürste? War das nicht ein Widerspruch in sich? Die altmärkische Küche war voller Überraschungen! Die Würstchen gelangten mit etwas von dem Fett, das sich im Glas abgesetzt hatte, in die Pfanne und brutzelten, bis sie eine knusprige braune Haut hatten. Sie schmeckten unglaublich lecker. Laura hatte noch ein Glas Gewürzgurken aufgemacht und mit frischem Brot und Senf ergab alles zusammen einen schnellen Schmaus.
Nachdem der Hunger gestillt war, begann Laura, ihre Ankündigung wahr zu machen: »Ich habe ein wenig recherchiert. Wegen der Hände. Die bedeuten doch sicher irgendwas. Also habe ich versucht, etwas zur Symbolik von Händen zusammenzustellen.«
»Gute Idee!« Judith war beeindruckt.
»Botho Ahlsens hat zwei Hände gefunden, keine einzelne Hand. Das ist natürlich kein Zufall, erst recht, wenn man bedenkt, dass die Hände ordentlich nebeneinanderlagen. Aber zu zwei abgehackten Händen habe ich nichts gefunden, nur jeweils zu einer Hand ... Die christliche Symbolik bietet reichlich Deutungen. In unserem Kulturkreis ist die Hand ein Symbol der Rechtsprechung. Denke bitte an den Handschlag, der gegenseitiges Akzeptieren von Vereinbarungen bedeutet, die Handgreiflichkeit als Zeichen des Anspruchs, das Heben der Hand beim Schwur ...«
»Dieben wurden die Hände abgehackt«, fiel Judith ein.
»Stimmt, aber meistens nur eine. Das Handabhacken war eine häufige Körperstrafe im Mittelalter. Doch nicht nur für Diebe, auch einen Falschspieler konnte es erwischen oder jemanden, der falsche Gewichte benutzte. Auch wer Waffen ohne Erlaubnis führte, konnte so bestraft werden. Und es traf Leute, die einen anderen am Körper verletzt hatten und dazu nie wieder in der Lage sein sollten.«
»Da tun sich ja eine Menge Motive auf. Womöglich bedeuten zwei abgetrennte Hände sogar einen Hinweis auf zwei Missetaten«, erwog Judith, obwohl sie nicht ganz überzeugt war, dass sich mithilfe der Symbolik reelle Ermittlungsansätze auftaten. Doch schaden konnten Überlegungen in diese Richtung auch nicht.
»Es wird noch besser«, kündigte Laura an. »Wenn jemand einen Meineid geschworen hatte, traf es oft seine Schwurhand. Allerdings gab es dabei eine Form der Strafmilderung: das Abtrennen eines oder mehrerer Finger. Also seiner Schwurfinger.«
»Und das sind aber ...«
»... nicht der kleine und der Ringfinger«, bestätigte Laura.
Judith gab außerdem zu bedenken: »Die Hände steckten in Handschuhen.«
»Auch dazu habe ich etwas gefunden.« Laura ging zum Fenster und griff nach einem Zettel, der zur Hälfte aus einem der Bücher schaute. »Oft stehen Handschuhe auch für die Hand an sich. Doch als eigenes Symbol stehen sie für einen hohen Stand, für eine Abkehr vom Alltäglichen oder Üblichen, und der Handschuh steht für die Reinheit der Hände.«
Sie legte den Zettel beiseite. »Wenn es überhaupt etwas bedeuten soll und die Hände vom Ferchel nicht einfach nur abgetrennte Hände sind«, schränkte Laura den Nutzen ihres Vortrages ein.
»Oh nein, das glaube ich nicht. Deine Recherche war ein großartiger Einfall, wirklich. Anregend ist es auf jeden Fall und wer weiß – womöglich bringen uns entsprechende Überlegungen tatsächlich auf die richtige Spur.«
»Danke«, freute sich Laura über das Lob, »ich helfe gern. Das weißt du
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