Gilbert, Elizabeth
grell heraus. Als ich in China war,
näherten sich mir die Frauen auf der Straße und zeigten mich ihren Kindern,
als sei ich aus dem Zoo entlaufen. Und die Kinder - die noch nie ein
menschliches Wesen gesehen hatten, das diesem rosahäutigen, gelbhaarigen
Gespenst ähnelte - brachen bei meinem Anblick sogar häufig in Tränen aus. Das
habe ich wirklich gehasst an China.
Da es mir nicht liegt (oder vielmehr zu mühsam ist), mich
schon vor meiner Reise über ein Land zu informieren, tendiere ich dazu,
einfach vor Ort aufzukreuzen und zu gucken, was passiert. Reist man nach dieser
Methode, »passiert« in der Regel Folgendes: Man verschwendet unendlich viel
Zeit damit, verwirrt auf Bahnhöfen herumzustehen, oder lässt - weil man es
nicht besser weiß - viel zu viel Geld in überteuerten Hotels. Meinem
schlechten Orientierungssinn verdanke ich es, dass ich in meinem bisherigen
Leben sechs Kontinente bereist habe, ohne auch nur eine ungefähre Vorstellung
gehabt zu haben, wo genau ich jeweils war. Aber nicht nur mein innerer Kompass
ist völlig »abgedreht«, es mangelt mir auch an persönlicher Coolness, was auf
Reisen zu einer Belastung werden kann. Nie habe ich es gelernt, jene Miene kompetenter
Unauffälligkeit zur Schau zu tragen, die bei Reisen in gefährliche fremde
Länder so nützlich ist. Sie wissen schon: dieses superentspannte
Alles-unter-Kontrolle-Gesicht, mit dem man aussieht, als gehöre man - überall
auf der Welt, egal wo, sogar unter Aufständischen in Jakarta - dazu. Oh nein!
Wenn ich nicht weiß, was ich tun soll, sehe ich auch so aus. Bin ich aufgeregt
und nervös, sieht man es mir an. Und weiß ich mal nicht mehr weiter, was häufig
der Fall ist, so merkt man das auch. Von meinem Gesicht kann man jeden meiner
Gedanken ablesen. Oder wie David es einmal ausdrückte: »Du hast das Gegenteil
von einem Pokerface. Du hast ein ... Minigolfgesicht.«
Und dann die Beschwerden, mit denen das Reisen meinem
Verdauungstrakt zusetzt! Ich will mich mit dieser schweren
Kost hier eigentlich gar nicht weiter befassen - mag es genügen
zu sagen, dass ich jedes Extrem verdauungsbedingter Notfälle erlebt habe. Im
Libanon bekam ich eines Nachts einen so heftigen Brechanfall, dass ich dachte,
ich hätte mir eine nahöstliche Variante des Ebola-Virus zugezogen. In Ungarn
war ich mit einem Darmleiden geschlagen, das mir zu einem völlig neuen
Verständnis des Ausdrucks »Ostblock« verhalf. Doch ist dies nicht meine
einzige körperliche Schwäche. An meinem ersten Reisetag in Afrika versagte mein
Rücken. In Venezuela war ich das einzige Mitglied meiner Gruppe, das mit
infizierten Spinnenbissen aus dem Dschungel zurückkehrte. Und wer - frage ich
Sie - holt sich in Stockholm einen
Sonnenbrand?
Gleichwohl und trotz alledem ist Reisen die große und
wahre Liebe meines Lebens. Seit ich im Alter von sechzehn Jahren mit meinem
beim Babysitten zusammengesparten Geld nach Russland reiste, war ich stets der
Meinung, dass Reisen jeden Preis und jedes Opfer rechtfertigt. In meiner Liebe
zum Reisen bin ich so treu und beständig, wie ich es in meinen anderen Lieben
nicht immer war. Meine Gefühle fürs Reisen sind wie die einer glücklichen
frischgebackenen Mutter für ihr von Koliken geplagtes, unruhiges, neugeborenes
Kind - es ist mir einfach egal, was ich dabei durchstehen muss. Weil ich es so
liebe. Weil es mir gehört. Weil es mir so ähnlich sieht. Es kann mich voll
kotzen, wenn es möchte - es ist mir einfach egal.
Wie auch immer, selbst als Flamingo bin ich nicht völlig
hilflos da draußen in der Welt. Ich habe meine Überlebenstechniken. Ich bin
geduldig. Ich verstehe mich aufs Reisen mit leichtem Gepäck. Ich bin eine
furchtlose Esserin. Mein vielleicht größtes Talent besteht jedoch darin, dass
ich mich mit jedem anfreunden kann. Notfalls auch mit
Toten. Einmal habe ich mich mit einem serbischen Kriegsverbrecher angefreundet,
der mich zu seiner Familie in den Bergen einlud. Nicht, dass ich stolz darauf
wäre, serbische Massenmörder zu meinem engsten Freundeskreis zu zählen (ich
musste es wegen eines Zeitschriftenartikels tun und damit er mir nicht eine vor
den Latz knallte), ich will damit nur sagen: Ich kann mich auch mit solchen
Leuten unterhalten. Deswegen habe ich auch keine Angst, in die fernsten Orte
der Welt zu reisen, nicht, wenn man dort Menschen treffen kann. Ehe ich nach
Italien reiste, wurde ich gefragt: »Haben Sie Freunde in Italien?« Und ich
schüttelte den Kopf und dachte: Jetzt zwar noch nicht,
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