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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Love Pray Eat
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Irgendwie jedoch hatte jene Nacht mit dem Messer in der Hand
etwas bei mir bewirkt.
    Am nächsten Morgen, als die Sonne aufging, rief ich meine
Freundin Susan an und bat sie, mir zu helfen. Ich glaube nicht, dass schon
einmal eine Frau aus meiner Familie sich auf diese Art »mitten auf die Straße«
gesetzt und gesagt hat: »Ich kann nicht mehr - irgendjemand muss mir jetzt
helfen.« Abgesehen davon, dass es diesen Frauen auch nichts genutzt hätte.
Niemand hätte ihnen geholfen oder ihnen helfen können. Im Höchstfalle hätte es
ihnen passieren können, dass sie und ihre Familien verhungert wären. Immer
wieder musste ich an diese Frauen denken.
    Und nie werde ich Susans Gesicht vergessen, als sie etwa
eine Stunde nach meinem Notruf in meine Wohnung gestürzt kam und mich kraftlos
auf der Couch liegen sah. Das Bild meiner Qual, das sie mir mit der
unverkennbaren Angst in ihren Augen zurückspiegelte, ist eine meiner
unheimlichs ten Erinnerungen an diese unheimlichen Jahre. Ich kauerte
mich aufs Sofa, während Susan sich ans Telefon schwang und einen Psychiater für
mich aufzutreiben versuchte, der mir noch am selben Tag einen Termin geben
würde und bereit wäre, mir Antidepressiva zu verschreiben. Ich hörte zu, wie
Susan mit den Ärzten verhandelte, hörte, wie sie sagte: »Ich fürchte, meine
Freundin ist im Begriff, sich ernsthaft wehzutun.« Auch ich hatte diese Angst.
    Als ich am Nachmittag dem Psychiater gegenübersaß, fragte
er mich, warum ich erst jetzt Hilfe suchte. Ich nannte ihm meine Vorbehalte
gegenüber Antidepressiva. Ich legte ihm Exemplare meiner drei bereits
veröffentlichten Bücher auf den Schreibtisch und sagte: »Ich bin
Schriftstellerin. Bitte tun Sie nichts, was meinem Gehirn schaden könnte.«
-»Wenn Sie ein Nierenleiden hätten«, entgegnete er, »würden Sie sofort die
entsprechenden Medikamente einnehmen - warum zögern Sie hier?« Aber das
zeigte im Grunde nur, wie wenig er von meiner Familie verstand; eine Gilbert
wäre durchaus in der Lage, ein Nierenleiden nicht medizinisch behandeln zu
lassen, da wir nun einmal eine Familie sind, in der jede Krankheit als Zeichen
persönlichen Scheiterns oder moralischen Versagens betrachtet wird.
    Er verschrieb mir abwechselnd oder gleichzeitig verschiedene
Medikamente, bis wir das richtige Präparat und die Dosierung herausfanden, von
der mir nicht schlecht wurde und die meine Libido nicht in eine ferne,
verschwommene Erinnerung verwandelte. Schnell, nach knapp einer Woche, spürte
ich, dass ein wenig mehr Tageslicht in mein Gemüt fiel. Auch schlafen konnte
ich endlich wieder. Und das war ein echtes Geschenk, weil man, wenn man nicht
schlafen kann, auch nicht aus seinem Loch herauskommt - man hat einfach keine
Chance. Die Pillen gaben mir die erholsame Nachtruhe zurück, unterbanden auch
das Händezittern, lösten den Schraubstock um meine Brust und schalteten den
Panikalarm in meinem Herzen ab.
    Dennoch habe ich diese Tabletten, obwohl sie sofort und
spürbar halfen, nie ruhigen Gewissens eingenommen. Es spielte keine Rolle, wer
mir sagte, dass derartige Medikamente absolut unbedenklich seien. Auch wenn
diese Mittel mir zweifellos halfen, die Brücke zum normalen Leben zu schlagen,
wollte ich sie so schnell wie möglich wieder absetzen. Im Januar 2003 hatte
ich mit der Einnahme begonnen. Im Mai reduzierte ich die Dosis bereits
beträchtlich. Diese vier Monate waren ohnehin die härtesten gewesen - die Endphase
meiner Scheidung, die letzten tragischen Monate mit David. Hätte ich diese Zeit
mit ein bisschen mehr Ausdauer auch ohne die Medikamente durchstehen können?
Hätte ich auch so, nur auf mich gestellt, überleben können? Ich weiß es nicht.
Es gibt keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, wie oder was wir geworden
wären, hätte man irgendeine Variable verändert.
    Sicher weiß ich nur, dass sich mein Elend durch diese Medikamente
weniger katastrophal anfühlte. Und dafür bin ich dankbar. Aber meine
Einstellung zu Psychopharmaka ist immer noch zutiefst ambivalent. Ihre Macht
ängstigt mich, ihre Verbreitung macht mir Sorgen. In Amerika sollten sie mit
sehr viel mehr Vorsicht verschrieben und eingenommen werden, und nie ohne
gleichzeitige psychotherapeutische Behandlung. Das Symptom einer Krankheit zu
behandeln, ohne seine Ursache zu erforschen, ist nur eine Ausprägung der
idiotischen westlichen Überzeugung, dass es irgendjemandem jemals besser gehen
könnte. Diese Pillen mögen mir zwar das Leben gerettet haben, aber sie taten

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