Gilbert, Elizabeth
das erste
Mal, seit ich in Italien bin. Dass ich mich schwach und ängstlich fühle,
schreibe ich in mein Tagebuch. Depression und Einsamkeit seien wieder
aufgekreuzt, und ich hätte nun Angst, dass sie nie wieder verschwänden. Ich
wolle die Medikamente nicht mehr nehmen, schreibe ich, fürchtete jedoch, dass
ich es müsse. Ich hätte entsetzliche Angst, mein Leben vielleicht nie wieder
wirklich in den Griff zu bekommen.
Als Reaktion erhebt sich irgendwo in meinem Innern eine
nun schon vertraute Stimme, die mir all die Gewissheiten anbietet, die ich in
früheren Notzeiten immer von anderen Menschen hören wollte:
Ich bin da. Ich liebe dich. Es stört mich nicht, wenn du
die ganze Nacht wach bleibst und heulst.. Ich bleibe bei dir. Wenn du die
Medikamente brauchst, dann nimm sie doch - auch das steh ich mit dir durch. Und
wenn du keine brauchst, dann lieb ich dich auch. Egal, was du tust, meine Liebe
kannst du nicht verlieren. Ich werde dich beschützen bis zu deinem Tod und
darüber hinaus. Ich bin stärker als Mr Depression, mutiger als Mr Einsamkeit,
und nichts kann mich jemals erschöpfen.
Diese seltsame innere Geste der Freundschaft heute Nacht -
diese hilfreiche Hand, die ich mir selbst reiche, wenn kein anderer da ist,
der mich trösten könnte - erinnert mich an etwas, das ich einmal in New York
erlebt habe. Eines Nachmittags betrat ich eilig ein Bürogebäude und rannte zum
wartenden Aufzug. Beim Sprint in den Fahrstuhl erhaschte ich in einem
Sicherheitsspiegel einen Blick auf mich. In diesem Moment tat mein Gehirn etwas
Merkwürdiges - es feuerte 101 Sekundenschnelle folgende Botschaft ab: »Hey!
Die kennst du! Das ist eine Freundin von dir!« Und tatsächlich lief ich
lächelnd auf mein eigenes Spiegelbild zu, bereit, dieses Mädchen, dessen Namen
ich vergessen hatte, aber dessen Gesicht mir so vertraut war, zu begrüßen.
Natürlich erkannte ich im selben Moment meinen Irrtum und lachte verlegen über
meine fast hündische Verwirrung. Doch aus irgendeinem Grund fällt mir dieser
Vorfall heute Nacht wieder ein, und ich notiere zum Abschluss folgenden
tröstlichen Merksatz:
Vergiss nie, dass du dich einstmals, in einem unbedachten
Moment, als deine Freundin wiedererkannt hast.
Das Buch an die Brust gedrückt, schlafe ich ein. Als ich
am nächsten Morgen aufwache, liegt immer noch eine leise Spur von Depressions-Zigarettenrauch
in der Luft, doch er selbst ist nirgends mehr zu sehen. Irgendwann in der Nacht
ist er aufgestanden und gegangen. Und Kamerad Einsamkeit hat sich ebenfalls
verzogen.
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Eins aber ist merkwürdig. Seit ich in Rom bin, scheint es
mit dem Yoga nicht mehr zu klappen. Seit Jahren habe ich es stetig und
ernsthaft praktiziert und sogar - begleitet von meinen besten Vorsätzen -
meine Yogamatte nach Rom mitgebracht. Aber es klappt einfach nicht. Ich meine,
wann soll ich meine Yogadehnübungen denn machen? Vor meinem italienischen
Aufputschfrühstück aus Schokoladenhörnchen und doppeltem Cappuccino? Oder
danach? In den ersten Tagen rollte ich träge jeden Morgen meine Yogamatte aus
und stellte fest, dass ich sie nur ansehen musste und schon lachte. Einmal
sagte ich sogar laut zu mir selbst: »Okay, kleine Miss Penne ai
quattro formaggi, mal sehen, wie es dir heute geht.« Beschämt ließ
ich die Matte im untersten Teil meines Koffers verschwinden (um sie, wie sich
herausstellen sollte, bis zu meiner Ankunft in Indien nie wieder auszurollen).
Dann machte ich einen Spaziergang und aß ein Pistazieneis.
Die römische Kultur entspricht einfach nicht der Yogakultur,
wenigstens soweit ich das erkennen kann. Ja, ich bin zu dem Schluss gelangt,
dass Rom und Yoga rein gar nichts miteinander zu tun haben.
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Außer mir selbst kenne ich inzwischen schon zwei weitere
Elizabeths in Rom. Beide Amerikanerinnen, beide Schriftstellerinnen. Die eine
Roman-, die andere Food- Autorin.
Mit ihrer Wohnung in Rom, ihrem Haus in Umbrien, ihrem italienischen Ehemann
und ihrem Job, der darin besteht, durch ganz Italien zu reisen, zu essen und
für die Zeitschrift Gour met darüber zu
schreiben, scheint es, als habe Elizabeth Nummer zwei in einem früheren Leben
unzählige Waisenkinder vor dem Ertrinken gerettet und werde nun dafür belohnt.
Es überrascht daher kaum, dass sie die besten Restaurants Roms kennt,
einschließlich einer gelateria, die einen
gefrorenen Reispudding serviert (und wenn sie den nicht im Himmel servieren,
will ich da gar nicht hin). Vorgestern lud sie mich zum
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