Gilbert, Elizabeth
ich heute Abend, wieder einmal, ganz allein sei. Er will wissen (obwohl
wir diese Fragen schon Hunderte Male durchgegangen sind), warum ich keine
Beziehung durchstehen kann, warum ich meine Ehe ruiniert, warum ich David
vergrault, warum ich es mir mit jedem Mann, mit dem ich jemals zusammen war,
verdorben habe. Er fragt mich, wo ich die Nacht meines dreißigsten Geburtstags
verbracht habe und warum seither alles so schief gelaufen ist. Warum ich
nichts auf die Reihe kriege, warum ich nicht zu Hause bin, in einem schönen
Heim, und brave Kinder großziehe, wie es sich für eine anständige Frau in
meinem Alter gehört. Weshalb ich mir einbilde, ich hätte einen Urlaub in Rom
verdient, nachdem ich mein Leben in einen Trümmerhaufen verwandelt habe. Warum
ich mir einbilde, nach Italien abzuhauen wie eine Collegestudentin könne mich
glücklich machen. Und wo ich wohl glaube, im Alter mal zu enden, wenn ich so
weitermache.
Ich gehe nach Hause, hoffe, die beiden abzuschütteln, aber
sie bleiben mir auf den Fersen. Depression legt mir seine schwere Hand auf die
Schulter, und Einsamkeit liegt mir mit seinen penetranten Fragen in den Ohren.
Ich mag nicht einmal mehr zu Abend essen; ich will nicht, dass sie mir dabei
zusehen. Ich will sie auch nicht die Treppe zu meiner Wohnung hinauflassen,
aber ich kenne Depression, er hat einen Knüppel, so dass man ihn unmöglich am
Hereinkommen hindern kann, falls er es vorhat.
»Es ist nicht fair, mich bis nach Rom zu verfolgen«, sage ich
zu Depression. »Ich hab schon gebüßt. Ich habe meine Strafe in New York
abgesessen.«
Aber er wirft mir nur dieses finstere Lächeln zu, macht es
sich in meinem Lieblingssessel bequem, legt die Füße auf den Tisch, zündet sich
eine Zigarette an und qualmt mir die Bude voll. Einsamkeit schaut ihm dabei zu
und seufzt, dann steigt er in voller Montur, samt Schuhen und allem, in mein
Bett und zieht sich die Decke unters Kinn. Er wird mich wieder zwingen, mit ihm
zu schlafen. Ich weiß es.
17
Erst wenige Tage zuvor hatte ich meine Medikamente abgesetzt.
Weil es mir einfach verrückt erschien, in Italien Antidepressiva zu schlucken.
Wer konnte denn hier deprimiert sein?
Ich hatte das Zeug ja von Anfang an nicht nehmen wollen.
Hatte lange dagegen angekämpft, vor allem wegen unzähliger Vorbehalte (wie
etwa: Amerikaner schlucken zu viele Pillen; wir kennen die Langzeitwirkungen
dieser Medikamente auf das menschliche Gehirn noch nicht; es ist ein
Verbrechen, dass heutzutage sogar amerikanischen Kindern Antidepressiva
verschrieben werden; wir behandeln die Symptome und nicht die Ursachen eines
nationalen mentalen Notstands ...). Doch in den letzten Jahren hatte kein
Zweifel mehr daran bestanden, dass ich mich in ernsten Schwierigkeiten befand
und diese auch nicht so schnell wieder verschwinden würden. Als meine Ehe in
die Binsen ging und sich das Drama mit David abzuzeichnen begann, entwickelte
ich irgendwann sämtliche Symptome einer schweren Depression: Schlaf- und
Appetitlosigkeit, Verlust der Libido, unkontrollierbares Heulen, chronische
Rücken- und Magenschmerzen, Entfremdung und Verzweiflung,
Konzentrationsprobleme bei der Arbeit, Unfähigkeit, sich darüber zu ärgern,
dass die Republikaner die Demokraten um die Präsidentschaft betrogen hatten ...
und so weiter und so fort.
Wenn man sich in einem solchen Wald verirrt, dauert es
manchmal eine Weile, bis man es merkt. Lange redet man sich ein, man sei nur
ein paar Schritte vom rechten Pfad abgekommen, werde jeden Moment auf den Weg
zurückfinden. Dann bricht wieder und wieder die Nacht herein, und immer noch
hat man keine Ahnung, wo man ist, und es wird Zeit, sich einzugestehen, dass
man so weit vom Weg abgekommen ist, dass man nicht einmal mehr weiß, wo die
Sonne aufgeht.
Ich rang mit meiner Depression, als ginge es um mein Leben,
um das es natürlich ging (und immer noch geht). Ich begann meine
Niedergeschlagenheit zu studieren, versuchte, ihre Ursachen zu entwirren. Was
war die Wurzel all dieser Verzweiflung? War sie psychologisch bedingt? (Mamas
und Papas Schuld?) War sie etwas Vorübergehendes, eine »schlimme Zeit« in
meinem Leben? (Wenn die Scheidung durchgestanden ist, verschwindet dann auch
die Depression?) War sie genetisch bedingt? (Die Melancholie, die viele Namen
trägt, liegt bei uns, gemeinsam mit ihrem traurigen Gefährten, dem
Alkoholismus, seit Generationen in der Familie.) Hatte sie kulturelle Gründe?
(Ist es nur der Fall-out eines postfeministischen
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