Gilbert, Elizabeth
sie nach Venedig eingeladen,
weil ich mich dagegen sträube - mich absolut weigere -, die romantischste
Stadt der Welt allein zu besuchen: nein, nicht jetzt, nicht in diesem Jahr. Ich
konnte es mir richtiggehend ausmalen, wie ich mutterseelenallein im hinteren
Teil einer Gondel saß und von einem schnulzenden Gondoliere durch den Nebel
gestakt wurde. Es ist ein trauriges Bild, ähnlich wie die Vorstellung, ganz
allein auf einem Tandem einen Hügel hinaufzustrampeln. Also wird Linda meine
Begleiterin sein - und eine gute obendrein.
Linda (mit ihren Dreadlocks und ihren Piercings) habe ich
vor knapp zwei Jahren auf Bali bei diesem Yogaseminar kennen gelernt. Seither
waren wir auch schon mal zusammen in Costa Rica. Sie ist eine meiner liebsten
Reisegefährtinnen, ein unerschütterlicher, unterhaltsamer und überraschend gut
organisierter kleiner Kobold in enger roter Knittersamthose.
Linda verfügt über eine der intaktesten Psychen der Welt.
Depressionen sind ihr völlig fremd, und sie legt ein Selbstwertgefühl an den
Tag, das nicht anders als hoch einzuschätzen ist. Als sie sich einmal im
Spiegel betrachtete, meinte sie zu mir: »Zugegeben, ich sehe zwar nicht in
jeder Hinsicht fantastisch aus, aber ich kann einfach nicht anders, ich muss mich
einfach lieb haben.« Sie hat die Fähigkeit, mich zum Schweigen zu bringen, wenn
ich mich mit metaphysischen Fragen herumquäle, Fragen wie: »Was ist das Wesen
des Universums?« (Lindas Antwort: »Ich frag dich nur eins: Wozu diese Frage?«)
Gern würde sie ihre Dreadlocks einmal richtig lang wachsen lassen und dann so
flechten, dass ihr Kopf »wie ein beschnittenes Parkbäumchen« aussähe, in dem
vielleicht ein Vogel sein Nest bauen könnte. Die Balinesen liebten Linda. Die
Costa Ricaner ebenfalls. Wenn sie sich nicht um ihre Hauseidechsen und
-frettchen kümmert, managt sie ein Team von Softwareentwicklern in Seattle und
verdient mehr Geld als wir alle zusammen.
Also treffen wir uns in Venedig, und Linda blickt stirnrunzelnd
auf unseren Stadtplan, dreht ihn um hundertachtzig Grad, lokalisiert unser
Hotel, orientiert sich und verkündet mit der ihr eigenen Bescheidenheit: »Wir
sind die Bürgermeisterinnen dieser Stadt.«
Ihre Begeisterung und ihr Optimismus passen überhaupt
nicht zu dieser stinkenden, sinkenden, trägen, lautlosen, geheimnisvollen und
unheimlichen Stadt. Der Tod ist nicht nur in Venedig,
sondern lauert hinter jeder Ecke. Die Stadt erscheint mir als wunderbarer Ort,
um sich zu Tode zu saufen, einen geliebten Menschen zu verlieren beziehungsweise
die Mordwaffe loszuwerden, mit der der geliebte Mensch ins Jenseits befördert
wurde. Als ich Venedig sehe, bin ich froh über meine Entscheidung, in Rom zu
leben. Ich glaube nicht, dass ich hier so schnell von den Antidepressiva
weggekom men wäre. Venedig ist schön, aber eher so schön wie ein
Bergman-Film; ich bewundere und bestaune die Stadt, würde aber nicht dort
leben wollen.
Die ganze Stadt wirkt abgeblättert und verblichen wie alte
Herrenhäuser, die ehemals reiche Familien - wenn ihnen der Unterhalt zu
kostspielig wird - verbarrikadieren, weil es leichter ist, einfach die Türen
und Fenster zuzunageln und die sterbenden Schätze dahinter zu vergessen. Das
ist Venedig. Das Wasser der Adria nagt an den maroden Fundamenten der Gebäude
und testet die Haltbarkeit dieses Forschungsprojekts aus dem vierzehnten
Jahrhundert: Hey, wie wär's, wenn wir mal eine Stadt bauen würden, die für alle
Zeiten von Wasser umspült wird?
Venedig wirkt gespenstisch unter dem bewölkten Novemberhimmel.
Die Stadt knarrt und schwankt wie ein Anglersteg. Trotz Lindas anfänglicher
Zuversicht, dass wir uns diese Stadt gewissermaßen aneignen könnten, verirren
wir uns jeden Tag, vor allem nachts, biegen in Gassen ein, die in finstere
Winkel beziehungsweise ins Kanalwasser führen. Eines nebligen Abends kommen wir
an einem alten Gebäude vorbei, das tatsächlich vor Schmerz zu stöhnen scheint.
»Kein Grund zur Aufregung«, zwitschert Linda. »Das ist nur der gierige
Höllenschlund.« Ich bringe ihr mein italienisches Lieblingswort - attraversiamo (»gehen wir rüber!«) - bei, und nervös gehen wir denselben Weg wieder
zurück, den wir gekommen sind.
Die schöne Venezianerin und Inhaberin des kleinen Hotels,
in dem wir abgestiegen sind, hadert mit ihrem Schicksal. Sie hasst Venedig.
Alle, die in Venedig lebten, schwört sie, empfänden die Stadt als Grab. Vor
Jahren hatte sie sich in einen sizilianischen Künstler
Weitere Kostenlose Bücher