Gilbert, Elizabeth
eine
Familie zu gründen ist in der amerikanischen (aber wohl auch jeder anderen)
Gesellschaft eine der elementarsten Möglichkeiten, um Kontinuität und Sinn zu
erleben. Jedes Mal, wenn ich zu einem großen Familientreffen meiner mütterlichen
Sippe in Minnesota fahre und sehe, wie jeder Einzelne über die Jahre hinweg
auf so beruhigende Weise seine Stellung hält, erlebe ich diese Wahrheit aufs
Neue. Erst ist man Kind, dann Teenager, dann jung verheiratet, dann Mutter
oder Vater, dann geht man in Rente, und schließlich ist man Großvater oder
Großmutter - in jedem Stadium weiß man, wer man ist, welche Pflichten man hat
und welchen Platz man beim Familientreffen einnimmt. Man sitzt jeweils bei den
anderen Kindern, Teenagern, jungen Eltern oder Rentnern. Bis man schließlich
bei den Neunzigjährigen ein wenig abseits sitzt und befriedigt seine
Nachkommenschaft überblickt. Und wer ist man dann? Nun? Natürlich derjenige,
der das alles geschaffen hat. Die
Befriedigung, die man aus diesem Wissen schöpft, ist nicht nur unmittelbar, sondern
sie ist universal anerkannt. Von wie vielen Menschen habe ich schon gehört,
dass sie ihre Kinder als die größte Leistung und den größten Trost ihres Lebens
betrachten! Sie sind das, worauf sie sich in einer metaphysischen Krise oder
Momenten des Selbstzweifels stützen können: Wenn ich
auch sonst nichts in meinem Leben vollbracht habe, so habe ich wenigstens meine
Kinder gut erzogen.
Was ist jedoch, wenn man - aus freier Entscheidung oder
erzwungenermaßen - schließlich nicht teilhat an dieser tröstlichen Familienkontinuität?
Was, wenn man aus der Bahn gerät? Wo sitzt man dann beim Familientreffen? Wie
nutzt man die Zeit, ohne am Ende fürchten zu müssen, seine Frist auf Erden
sinnlos verplempert zu haben? Wozu war unser Leben dann gut? Wir werden dann
wohl ein anderes Maß zur Beurteilung unseres Lebens finden müssen. Ich liebe
Kinder, doch wenn ich keine bekomme, wer bin ich dann am Ende meiner Tage?
Virginia Woolf schrieb: Ȇber den weiten Kontinent eines
Frauenlebens fällt der Schatten eines Schwerts.« Auf der einen Seite dieses
Schattens, meinte sie, liege Konvention, Tradition und Ordnung, dort »geht
alles korrekt zu«. Sei man jedoch verrückt genug, über den Schatten
hinwegzuspringen und ein Leben jenseits der Konvention zu wählen, so erlebe man
auf der anderen Seite »nichts als Chaos. Nichts folgt einem geregelten Gang.«
Der Sprung über den Schatten aber könne - so Woolfs Argument - einer Frau ein
weit interessanteres Leben bescheren, wenn es auch sicherlich mit größeren
Gefahren einhergehe.
Ich kann von Glück reden, dass ich wenigstens meine
Schriftstellerei habe. Das ist etwas, was die Menschen begreifen. Ab, sie
bat ihre Ehe aufgegeben, um ihre Kunst zu retten. Was zwar
irgendwie zutrifft, aber doch nicht so ganz. Viele Schriftstellerinnen haben
Familie. Toni Morrison, um nur ein Beispiel zu nennen, hinderte die Erziehung
ihres Sohnes nicht daran, ein Pokälchen zu gewinnen, das man Nobelpreis nennt.
Aber Toni Morrison hat ihren Weg gefunden, und ich muss den meinen suchen. Es
sei besser, sein eigenes Schicksal unvollkommen zu leben, behauptet die Bhagavadgita, jener altindische yogische Text, als das Leben eines anderen auf
vollkommene Weise nachzuahmen. Nun also habe ich begonnen, mein eigenes Leben
zu leben. Und so unvollkommen und unbeholfen es auch sein mag, es sieht mir
jetzt wirklich ähnlich.
Ich gebe zu, dass ich - verglichen mit meiner Schwester,
die ein eigenes Heim und Kinder hat und in einer intakten Beziehung lebt -
einen ziemlich instabilen Eindruck mache. Sogar mich verblüfft der Kontrast
zuweilen. Nicht mal einen festen Wohnsitz habe ich, was ja wohl geradezu als
Verbrechen gegen die Normalität gilt. Ja, all meine Habseligkeiten sind bei
Catherine untergestellt, die mir auch eine provisorische Bleibe im obersten
Stock ihres Hauses eingerichtet hat (die wir »das Stübchen des alten Tantchens«
nennen, da es ein Dachfenster hat, durch das ich - in mein altes Brautkleid
gewandet - aufs Moor hinausstarren und meiner verlorenen Jugend nachtrauern
kann). Catherine scheint mit dieser Regelung einverstanden zu sein, und für
mich ist sie auf jeden Fall bequem. Aber ich muss auch aufpassen, dass ich -
wenn ich zu lange ziellos durch diese Welt drifte - nicht eines Tages noch zur
»abgedrehten Tante mit Dachschaden« mutiere. Vielleicht ist es ja auch schon
passiert. Letzten Sommer hatte meine fünfjährige Nichte eine kleine
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