Gilbert, Elizabeth
Pyjama zur
Yogastunde« umschreibt.
Ich machte Giulio auf diese Frau aufmerksam und sagte:
»Sieh mal, Giulio! Das ist eine Römerin. Sie ist die weibliche Verkörperung von
Rom. Rom kann nicht gleichzeitig ihre und meine Stadt sein. Nur eine von uns
gehört wirklich hierher. Und ich glaube, wir wissen beide genau, wer.«
Giulio meinte: »Vielleicht haben Rom und du ja nur verschiedene
Worte dafür.«
»Was meinst du damit?«
Er erwiderte: »Weißt du nicht, dass der Schlüssel zum Verständnis
einer Stadt und ihrer Menschen darin liegt, dass man lernt, wie das >Wort
der Straße< lautet?«
Und er fuhr fort und erklärte mir in einer Mischung aus
Englisch, Italienisch und Gesten, dass zu jeder Stadt ein Wort gehöre, mit dem
man sie und auch ihre Bewohner charakterisieren könne. Wenn man die Gedanken
der Menschen lesen könne, während sie auf der Straße an einem vorübergingen,
werde man feststellen, dass an jedem Ort der Welt die meisten denselben
Gedanken hätten. Und dieser mehrheitliche Gedanke sei auch das Wort der
jeweiligen Stadt. Es erkläre alles an diesem Ort: die Ambitionen der dort lebenden
Menschen, ihre Lebensform und so weiter. Und wenn dein persönliches Wort nicht
zum Wort der Stadt passt, dann gehörst du nicht wirklich dorthin.
»Und was ist das Wort für >Rom«, fragte ich.
»Sex«, verkündete er.
»Ist das nicht ein absolutes Klischee?«
»Nein.«
»Aber es gibt doch mit Sicherheit auch Römer, die auch mal
an andere Dinge denken?«
»Nein.« Giulio beharrte darauf: »Alle denken den lieben
langen Tag an nichts anderes als Sex.«
»Sogar im Vatikan?«
»Das ist was anderes. Der Vatikan gehört nicht zu Rom.
Dort haben sie ein anderes Wort. Ihr Wort heißt Macht.«
»Glaubst du nicht, dass es Glaube ist?«
»Es ist Macht«, wiederholte
er. »Glaub mir. Aber Roms Wort ist Sex.«
Also wenn Sie Giulio glauben wollen, dann pflastert dieses
kleine Wörtchen - Sex - hier in Rom die Straßen unter
Ihren Füßen, plätschert über römische Brunnenbecken, erfüllt wie Verkehrslärm
die Atmosphäre der Stadt. An Sex denken, sich entsprechend kleiden, Sex suchen,
erwägen, verweigern, offerieren, einen Sport und ein Spiel daraus machen -
nichts anderes tun hier alle andauernd. Was vielleicht ein wenig erklären
würde, warum sich Rom trotz all seiner Großartigkeit nicht ganz wie meine
Heimatstadt anfühlt. Derzeit jedenfalls nicht. Weil Sex im Moment
nicht mein Wort ist (zu anderen Zeiten meines Lebens war es das). Daher prallt
Roms Wort, wenn es durch die Straßen hallt und einmal zufällig auch auf mich
trifft, von mir ab, ohne einen Eindruck zu hinterlassen. Ich bin also gar nicht
ganz hier. Eine verrückte Theorie ist das, unmöglich zu beweisen, aber
irgendwie gefällt sie mir.
»Was«, fragte Giulio, »ist das Wort für >New York«
Ich überlegte eine Weile und kam zu folgendem Schluss:
»Natürlich ist es ein Verb. Ich glaube, es heißt erreichen.«
(Ein Wörtchen, das sich, wie ich glaube, geringfügig, aber
grundlegend von dem Wort für »Los Angeles« unterscheidet, nämlich Erfolg
haben. Später übrigens werde ich diese ganze Theorie meiner
schwedischen Freundin Sofie erläutern, und Sofie wird feststellen, dass das
Wort auf den Straßen Stockholms anpassen lautet,
was uns beide deprimiert.)
»Wie heißt das Wort für >Neapel«, fragte ich Giulio.
»Kämpfen«, meinte er. »Und wie hieß das Wort
in deiner Familie, als du ein Kind warst?«
Das war eine schwierige Frage. Ich versuchte, mir ein Wort
zu überlegen, das irgendwie genügsam und respektlos in sich vereinte. Aber Giulio war schon bei der nächsten und nahe
liegenden Frage: »Welches ist dein Wort?«
Und diese Frage konnte ich definitiv nicht beantworten.
Auch nach einigen Wochen des Nachdenkens weiß ich keine
Antwort. Mir fallen einige Wörter ein, die es mit Sicherheit nicht sind. Es
ist nicht Ehe, das ist offensichtlich. Es ist
auch nicht Familie (obwohl es das Wort des Städtchens
war, in dem ich einige Jahre mit meinem Mann lebte - wobei die Unvereinbarkeit
meiner Lebensvorstellungen mit diesem Wort zu einem beträchtlichen Teil für
mein damaliges Leiden verantwortlich war). Es ist, dem Himmel sei Dank, nicht
mehr Depression. Ich mache mir auch keine Sorgen,
dass ich eventuell etwas mit der Stockholmer Anpasserei gemein haben könnte. Doch kommt es mir auch vor, als würde mein
Lebensstil nicht mehr so völlig mit dem New Yorker erreichen übereinstimmen, obwohl das zehn Jahre lang mein Wort war.
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