Gilbert, Elizabeth
einen
lebenden Guru. Das ist der Grund, warum Suchende seit Urzeiten nach Indien
pilgern. Im vierten Jahrhundert vor Christus schickte Alexander der Große einen
Kundschafter nach Indien, dem er auftrug, einen dieser berühmten Yogis zu
finden und mit ihm an seinen Hof zurückzukehren. (Der Botschafter fand, seinem
Bericht zufolge, tatsächlich einen Yogi, konnte den Gentleman jedoch nicht zur
Reise bewegen.) Im ersten Jahrhundert nach Christus schrieb der Grieche
Apollonius von Tyana über seine Reise durch Indien: »Ich sah indische Brahmanen,
die auf Erden lebten und es doch nicht taten, die ohne Befestigungen gefestigt
waren und nichts besitzend alle Reichtümer der Welt ihr Eigen nannten.« Sogar
Gandhi woll te bei einem Guru studieren, fand jedoch zu seinem Leidwesen
nie die Zeit und Gelegenheit, sich einen zu suchen. »Ich glaube«, schrieb er,
»es liegt viel Wahrheit in dem Satz, dass wirkliches Wissen ohne einen Guru unmöglich
ist.«
Ein großer Yogi ist jemand, der den anhaltenden Glückszustand
der Erleuchtung erreicht hat. Und ein Guru ist ein großer Yogi, der diesen
Zustand tatsächlich an andere weitergeben kann. Das Wort »Guru« besteht aus
zwei Sanskritsilben. Die erste bedeutet »Finsternis«, die zweite »Licht«. Aus
der Finsternis ins Licht. Das, was vom Meister auf den Schüler übergeht, wird Mantravirya genannt, »die Macht des erleuchteten Bewusstseins«. Man geht also zu
seinem Guru nicht nur, um sich, wie von jedem Lehrer, unterweisen zu lassen,
sondern um tatsächlich des Gnadenzustands des Gurus teilhaftig zu werden.
Solche Gnadenübertragungen können sich auch in den allerflüchtigsten
Begegnungen mit einem großen Wesen vollziehen. In New York ging ich einmal zu
einer Veranstaltung, um den großen vietnamesischen Mönch, Dichter und Friedensstifter
Thich Nhat Hanh sprechen zu hören. Es war ein typisch hektischer Wochentagabend
in der Stadt, und als sich die Menge ins Auditorium schob, war die Atmosphäre
durch den kollektiven Stress aller Anwesenden zum Zerreißen gespannt. Und dann
betrat der Mönch die Bühne. Ziemlich lange saß er nur schweigend da, bis er zu
reden begann, und das Publikum wurde - man spürte, wie es einen nach dem
anderen ergriff - von seinem Schweigen buchstäblich kolonisiert. Bald war die Unruhe verschwunden. Innerhalb von vielleicht zehn
Minuten hatte der kleine Vietnamese jeden von uns in sein Schweigen
hineingezogen. Oder vielleicht müsste man zutreffender sagen, dass er jeden von
uns in sein eigenes Schweigen zog, in jenen Frieden,
der zwar jedem von uns potenziell innewohnte, den wir aber noch nicht entdeckt oder
uns zunutze gemacht hatten. Seine Fähigkeit, diesen Zustand allein durch seine
Präsenz in uns allen hervorzurufen - das ist göttliche Macht. Und deshalb
gehen wir zu einem Guru: in der Hoffnung, dass die Meriten unseres Meisters
uns unsere eigene verborgene Größe offenbaren.
Drei Faktoren gebe es, schrieben die klassischen indischen
Weisen, die anzeigten, ob eine Seele mit der höchsten und am meisten
glückverheißenden Bestimmung des Universums gesegnet sei:
1) Als Mensch
mit der Fähigkeit zu bewusstem Fragen geboren zu sein.
2) Mit der
Sehnsucht, das Wesen des Universums zu verstehen, geboren zu sein - oder sich
diese erworben zu haben.
3) Einen
lebenden geistigen Führer gefunden zu haben.
Eine Theorie besagt, dass man, wenn man sich nur
aufrichtig genug nach einem Guru sehnt, diesen auch finden wird. Das Universum
bewegt sich, die Moleküle des Schicksals ordnen sich neu, und schon bald kreuzt
sich Ihr Weg mit dem des Meisters, den Sie brauchen. Schon einen Monat nach
jener Nacht inbrünstigen Gebets auf den Badezimmerfliesen - eine Nacht, in der
ich Gott unter Tränen um Antwort bat - fand ich den meinen, als ich in Davids
Wohnung spazierte und auf das Foto dieser umwerfenden Inderin stieß. Natürlich
plagten mich bei der Vorstellung, einen Guru zu haben, zwiespältige Gefühle. Im
Allgemeinen ist uns Westlern nicht wohl bei dem Wort. Wir haben in der jüngeren
Vergangenheit mit dem dahinter stehenden Phänomen flüchtige Bekanntschaft
gemacht. In den siebziger Jahren stießen einige reiche, eifrige und
empfängliche junge westliche Suchende mit einer Hand voll charismatischer, aber
dubioser indischer Gurus zusammen. Die Aufregung hat
sich zwar inzwischen gelegt, das Misstrauen aber hallt immer noch nach. Auch
ich schrecke vor dem Wort »Guru« bisweilen zurück. Für meine Freunde in Indien
ist das kein Problem; sie sind
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