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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Love Pray Eat
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mit dem »Guru-Prinzip« aufgewachsen, sie sehen
das entspannter. Oder wie ein indisches Mädchen mir einmal sagte: »Jeder in Indien
hat fast einen Guru!« Ich weiß, was sie sagen wollte (dass fast jeder in
Indien einen Guru hat), aber noch stärker sprach mich ihr Lapsus an, weil auch
ich zuweilen dieses Gefühl habe - als hätte ich fast einen Guru.
Manchmal aber kann ich mir das offenbar nicht eingestehen, weil Skepsis und
Pragmatismus das intellektuelle Erbteil meiner neuenglischen Vorfahren sind.
Doch schließlich habe ich mich nicht bewusst nach einer Meisterin umgesehen.
Sie ist einfach aufgetaucht. Und als ich sie zum ersten Mal auf dem Foto erblickte,
da war es, als sähe sie mich an - die dunklen Augen, die vor Verständnis und
Mitgefühl glühten -, als wollte sie sagen: »Du hast mich gerufen und nun bin
ich da. Willst du das also jetzt in Angriff nehmen oder nicht?«
    Und alle nervösen Witze und das Unbehagen gegenüber der
fremden Kultur beiseite lassend, muss ich mich stets daran erinnern, womit ich
an jenem Abend geantwortet habe: nämlich mit einem direkten und unbedingten Ja.
     
    39
     
    Eine meiner ersten Zimmergenossinnen im Ashram war eine
Afroamerikanerin mittleren Alters, fromme Baptistin und Meditationslehrerin aus
South Carolina. Im Lauf der Zeit leisteten mir dann unter anderem eine
argentinische Tänzerin und eine Schweizer Homöopathin Gesellschaft, eine mexikanische
Sekretärin, eine fünffache Mutter aus Australien, eine junge
Computerprogrammiererin aus Bangladesch, eine Kinderärztin aus Maine und eine
philippinische Buchhalterin. Auch andere kamen und gingen, da die Schüler
durch die Wohnheime rotierten.
    Dieser Ashram ist kein Ort, wo man, weil man gerade in der
Gegend ist, mal kurz vorbeischaut. Zunächst einmal ist er gar nicht jedem
zugänglich. Ziemlich weit von Mumbai entfernt, liegt er an einer unbefestigten
Straße in einem Flusstal und in der Nähe eines hübschen kleinen Dorfs
(bestehend aus einer Straße, einem Tempel, einer Hand voll Läden und einer
Population von Kühen, die frei umherstreifen und manchmal in die
Schneiderwerkstatt laufen und sich dort niederlegen). Eines Abends fiel mir
eine nackte Sechzig-Watt-Glühbirne auf, die mitten im Dorf an einem Draht von
einem Baum hängt; es ist die einzige Straßenlaterne des Ortes. Der Ashram leistet
einen bedeutenden Beitrag zur lokalen Wirtschaft und ist der Stolz des Dorfs.
Außerhalb der Ashram-Mauern gibt es nichts als Staub und Armut. Innerhalb des Ashrams
nichts als bewässerte Gärten, Blumenbeete, verborgene Orchideen,
Vogelgezwitscher, Mangobäume, Jackfruitbäume, Cashewbäume, Palmen, Magnolien, Banyans.
Die Gebäude sind hübsch, aber schlicht. Es gibt einen Speisesaal im
Cafeteria-Stil, eine Bibliothek, die die spirituellen Schriften sämtlicher
Weltreligionen beherbergt, sowie einige Tempel für unterschiedliche
Zusammenkünfte. Auch zwei Meditations-»Höhlen« - dunkle und stille Kellerräume
mit bequemen Kissen, die den Meditierenden Tag und Nacht offen stehen. Es gibt
einen überdachten Pavillon im Freien, in dem morgens Yogakurse abgehalten
werden, und einen ovalen Park, den ein Fußweg umgibt, auf dem die Schüler zum
sportlichen Ausgleich joggen können. Ich schlafe in einer Betonzelle.
    Während meines Besuchs hielten sich nie mehr als ein paar
Hundert Leute im Ashram auf. Wäre die Meisterin dort gewesen, wäre die Zahl
der Besucher beträchtlich gestiegen, aber solange ich dort war, kam sie nicht.
Damit hatte ich schon gerechnet; in letzter Zeit hatte sie sich immer wieder
für einige Wochen oder Monate in Amerika aufgehalten, aber man konnte ja nie
wissen, wann sie überraschend irgendwo aufkreuzte. Für das Studium in ihrem Ashram
wird ihre Anwesenheit nicht als zwingend erachtet. Natürlich versetzt einen die
Gegenwart eines lebenden yogischen Meisters in einen unvergleichlichen
Glückszustand - das hatte ich ja schon erlebt. Viele Langzeitschüler sind allerdings
der Ansicht, dass es zuweilen sogar ablenkend wirken kann: Wenn man nicht
aufpasse, könne man in dem ganzen Trubel rund um den Guru leicht sein wahres
Ziel aus dem Blick verlieren. Wenn man hingegen einfach in einen ihrer Ashrams gehe
und sich an den Stundenplan der Übungen halte, finde man es zuweilen leichter,
aus seiner persönlichen Meditation heraus mit der Meisterin zu kommunizieren,
statt sich durch Massen eifriger Schüler zu drängeln, nur um zwei Worte mit ihr
zu wechseln.
    Es gibt zwar ein paar langjährige bezahlte

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