Gilbert, Elizabeth
Kräfte im Ashram,
der Großteil der Arbeit aber wird von den Schülern selbst erledigt. Auch einige
Dorfbewohner arbeiten hier gegen Lohn. Andere Dörfler sind Anhänger der
Meisterin und leben als Schüler hier.
Einem der jungen Inder im Ashram gelang es irgendwie, mich
zu fesseln. Er war unglaublich dünn (wenngleich das in Indien kein
ungewöhnlicher Anblick ist) und zog sich an wie früher die Computerfreaks an
meiner Junior High School zum Auftritt des Schulorchesters - dunkle Hose und
ein gebügeltes weißes Hemd, das viel zu groß für ihn war und aus dessen Kragen
sein stängelartiger Hals herausragte wie ein einzelnes Gänseblümchen aus einem
riesigen Blumentopf. Das Haar war stets mit Wasser ordentlich zurückgestrichen.
Der Gürtel war der eines älteren Mannes und reichte ihm fast zweimal um eine
Taille, die keine fünfzig Zentimeter maß. Er trug immer dasselbe, offenbar weil
er nichts anderes besaß. Jeden Abend muss er eigenhändig das Hemd gewaschen
und es am Morgen wieder gebügelt haben. (Die Menschen achten hier sehr auf
adrette Kleidung; die indischen Teenager mit ihren gestärkten Kleidern
beschämten mich, so dass ich meinen Knitterlook schnell ablegte und mich
ordentlicher und dezenter kleidete.) Was also war mit diesem Jungen? Warum war
ich jedes Mal so gerührt, wenn ich sein Gesicht sah - ein Gesicht, so mit Licht
getränkt, dass man meinte, er käme von einem langen Urlaub auf der Milchstraße
zurück. Schließlich fragte ich eine junge Inderin, wer er sei. Nüchtern
erwiderte sie: »Er ist der Sohn eines Händlers aus dem Dorf. Seine Familie ist
sehr arm. Die Meisterin hat ihn eingeladen, im Ashram zu leben. Wenn er
trommelt, kannst du Gottes Stimme hören.«
Es gibt einen Tempel im Ashram, der allgemein zugänglich
ist und in den tagsüber viele Inder kommen, um dem Siddha Yogi (oder
»vollkommenen Meister«) ihren Tribut zu entrichten, einem Guru, der diese
Richtung der Lehre in den zwanziger Jahren begründet hat und immer noch in ganz
Indien als großer Heiliger verehrt wird. Der übrige Teil des Ashrams aber ist
den Schülern vorbehalten. Er ist weder Hotel noch Ferienort. Eher ähnelt er
einer Universität. Man muss sich bewerben, und um aufgenommen zu werden, muss man
nachweisen, dass man diesen Yoga schon eine Weile ernsthaft studiert. Ein
Mindestaufenthalt von einem Monat ist vorgeschrieben. (Ich habe beschlossen,
sechs Wochen zu bleiben, um dann auf eigene Faust in Indien herumzureisen und
mich auch in anderen Tempeln, Ashrams und religiösen Stätten umzusehen.)
Die Schülerschaft besteht etwa zu gleichen Teilen aus Indern
und Westlern (und die Westler sind ungefähr zu gleichen Teilen Amerikaner und
Europäer). Unterrichtet wird sowohl auf Hindi als auch auf Englisch. Bei der
Bewerbung muss der Kandidat einen Aufsatz schreiben, Referenzen nennen und
Fragen zu seinem geistigen und körperlichen Befinden beantworten, zu
eventuellem früherem Drogen- oder Alkoholmissbrauch sowie zu seiner
finanziellen Situation. Die Meisterin will nicht, dass jemand ihren Ashram aufsucht,
um vor irgendeinem Chaos, das er in seinem Leben angerichtet hat, zu flüchten;
denn das würde niemandem nützen. Außerdem gilt bei ihr folgender Grundsatz:
Falls Angehörige und nahe stehende Personen deinen Entschluss, einem Guru zu
folgen und in einem Ashram zu leben, nicht respektieren können, dann solltest
du es lieber lassen. Dann solltest du zu Hause bleiben, ganz normal weiterleben
und dich bemühen, ein guter Mensch zu sein. Kein Grund, dich darüber
aufzuregen.
Die Sensibilität und das pragmatische Wesen dieser Frau
sind mir immer wieder ein Trost.
Daher muss man auch unter Beweis stellen, dass man sensibel
und praktisch veranlagt ist. Man muss zeigen, dass man arbeiten kann, denn es
wird erwartet, dass man sich mit täglich etwa fünf Stunden Seva oder
»selbstlosem Dienst« am Gesamtbetrieb des Ashrams beteiligt. Und falls man in
den vorangegangenen sechs Monaten ein größeres emotionales Trauma erlitten hat
(Scheidung, Todesfall), bittet die Ashram-Leitung darum, den Aufenthalt auf
einen späteren Termin zu verschieben, denn es bestehe die Gefahr, dass man sich
nicht auf seine Studien konzentriere und, falls es zu irgendeiner Art von
Zusammenbruch komme, auch seine Mitschüler ablenke. Ich hatte den Schnitt nach
der Scheidung gerade erst selbst vollzogen. Und wenn ich an die geistigen und seelischen
Qualen denke, die ich direkt nach dem Ausbruch aus meiner Ehe durchmachte, habe
ich keinen
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