Gilbert, Elizabeth
dieser Praktiken sehr hinduistisch anmuten, ist
Yoga weder gleichbedeutend mit Hinduismus, noch sind alle Hindus Yogis. Wahrer
Yoga konkurriert weder mit anderen Religionen, noch schließt er sie aus. Sie
können sich Ihres Yogas - Praktiken der heiligen Vereinigung - bedienen, um Krishna
oder Jesus, um Mohammed, Buddha oder Jahwe näher zu kommen. Während meiner
Zeit im Ashram traf ich Anhänger, die sich als praktizierende Christen, Juden,
Buddhisten, Hindus oder sogar Moslems bezeichneten. Und ich habe andere kennen
gelernt, die über ihre Religionszugehörigkeit lieber nicht reden wollten - was
man ihnen in dieser streitsüchtigen Welt wohl kaum vorwerfen kann.
Dem yogischen Weg geht es um die Entwirrung der Konstruktionsfehler
der condition humaine, die ich grob vereinfacht als
herzzerreißende Unfähigkeit, über längere Zeit zufrieden zu sein, definieren
würde. Verschiedene Denkschulen fanden im Lauf der Jahrhunderte
unterschiedliche Erklärungen für die offenbar von Grund auf mangelhafte
Beschaffenheit des Menschen. Taoisten sprechen von Ungleichgewicht, der
Buddhismus von Unwissenheit, der Islam macht die Rebellion gegen Gott für unser
Elend verantwortlich, und die jüdisch-christliche Tradition schreibt all unser
Leiden der Erbsünde zu. Freudianer behaupten, unser Unglück sei das
unvermeidliche Resultat des Zusammenpralls unserer natürlichen Triebe mit den
Erfordernissen der Kul tur. (Oder wie meine Freundin Deborah,
die Psychologin, es salopp formuliert: »Das Begehren lässt uns nicht zu Potte
kommen.«) Die Yogis allerdings behaupten, Unzufriedenheit sei einfach ein Fall
von falsch verstandener Identität. Wir sind unglücklich, weil wir uns
einbilden, nur Individuen zu sein, allein mit unseren Ängsten und Mängeln,
unserem Groll und unserer Sterblichkeit. Irrtümlicherweise sind wir überzeugt,
unser Wesen gehe ganz und gar in unseren beschränkten kleinen Egos auf. Unsere
tiefere göttliche Natur erkennen wir nicht. Wir sehen nicht, dass irgendwo in
uns allen tatsächlich ein höheres Selbst existiert, das in ewigem Frieden lebt.
Dieses höhere Selbst aber, universal und göttlich, ist unsere wahre Identität.
Solange man diese Wahrheit nicht erkennt, sagen die Yogis, wird man immer
verzweifelt sein - eine Vorstellung, die in folgendem Ausspruch des griechischen
Stoikers Epiktet schön zum Ausdruck kommt: »Du trägst Gott in dir, du armer
Wicht, und weißt es nicht.«
Yoga ist der Versuch, unsere Göttlichkeit ganz persönlich
zu erfahren und diese Erfahrung für immer festzuhalten. Im Yoga geht es um
Selbstbeherrschung und das fortwährende Bemühen, die Gedanken vom endlosen
Brüten über die Vergangenheit und den nicht enden wollenden Sorgen um die
Zukunft loszulösen, so dass es einem möglich wird, nach einem Ort
immerwährender Präsenz zu suchen, von dem aus man sich
selbst und seine Umgebung mit Gleichmut betrachten kann. Denn nur einem derart
ausgeglichenen Geist wird sich das wahre Wesen der Welt (und unserer selbst) offenbaren.
Aus ihrer gelassenen Sitzhaltung heraus sehen wahre Yogis die ganze Welt als
Ausfluss der schöpferischen Energie Gottes, die sich in allem gleichermaßen
manifestiert - in Männern, Frauen, Kindern, Steckrüben, Wanzen, Korallen: Das
alles ist Gott in Verkleidung. Ein menschliches Leben jedoch halten sie für
eine besondere Chance, denn nur in Menschengestalt und mit menschlichem Geist
ist Gotteserkenntnis möglich. Steckrüben, Wanzen, Korallen hingegen haben nie
die Chance, zu entdecken, wer sie wirklich sind. Wir aber sehr wohl.
»Uns kann es daher um nichts anderes gehen«, schrieb der
heilige Augustinus ziemlich yogisch, »als darum, die Gesundheit unseres
Herzensauges wiederherzustellen, welches Gott zu schauen vermag.«
Wie jeder große philosophische Gedanke ist auch dieser
leicht zu verstehen - ihn sich zu Eigen zu machen aber praktisch unmöglich.
Okay, wir sind also alle eins, und die Göttlichkeit wohnt in uns allen
gleichermaßen. Kein Problem. Schon kapiert. Aber versuchen Sie mal, davon
ausgehend zu leben. Versuchen Sie mal, das vierundzwanzig Stunden am Tag in die
Praxis umzusetzen. Das ist nicht ganz so einfach. Daher betrachtet man es in
Indien als selbstverständlich, dass man für Yoga einen Lehrer braucht. Sofern
man nicht als einer der seltenen strahlenden Heiligen geboren wurde, die schon
voll verwirklicht auf die Welt gekommen sind, wird man auf dem Pfad der
Erleuchtung Anleitung benötigen. Und wenn man Glück hat, findet man
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