Gilbert, Elizabeth
Generationen
von Sizilianern geholfen hat, ihre Würde zu bewahren, auch mir geholfen hat,
die meine wiederzufinden - nämlich die Vorstellung, dass der Sinn für Genuss
ein Anker für das eigene Menschsein ist. Das, glaube ich, hat Goethe gemeint,
als er sagte, dass man hierher, nach Sizilien, kommen müsse, um Italien zu
verstehen. Und genau das habe ich wohl instinktiv gespürt, als ich zu dem
Schluss kam, hierher, nach Italien, reisen zu müssen, um mich selbst zu
verstehen.
In einer Badewanne in New York habe ich begonnen, meine
Seele zu heilen, indem ich laut in einem italienischen Wörterbuch las. Mein
Leben war zerbrochen, und es fiel mir so schwer, mich wiederzuerkennen, dass
ich mich bei einer polizeilichen Gegenüberstellung wahrscheinlich nicht hätte
identifizieren können. Aber als ich anfing, Italienisch zu lernen, verspürte
ich ein Quäntchen Glück, und wenn man nach so dunklen Zeiten die leiseste
Chance auf Glück bekommt, dann muss man dieses Glück festhalten und darf es
nicht mehr loslassen, bis es einen aus dem Dreck zieht - und das ist kein
Egoismus, sondern moralische Verpflichtung. Du hast ein Leben geschenkt
bekommen; daher ist es deine Pflicht (und dein Recht), irgendetwas Schönes, wie
winzig auch immer, darin zu entdecken.
Mager und verhärmt kam ich nach Italien. Ich wusste noch
nicht, dass mir etwas zusteht. Vielleicht ist mir das ja auch heute noch nicht
ganz klar. Aber ich weiß, dass ich mich in letzter Zeit - durch harmlose
Genüsse - zu einem sehr viel stabileren Menschen entwickelt habe. Die
einfachste und zutiefst menschliche Ausdrucksweise dafür ist: Ich habe
zugenommen. Ich bin existenter als noch vor vier Monaten. Ich werde
Italien merklich dicker verlassen, als ich bei meiner Ankunft war. Und ich
verlasse dieses Land mit der Hoffnung, dass die Expansion einer Person, die
Erweiterung eines Lebens, tatsächlich einen Wert hat in dieser Welt. Auch wenn
dieses Leben, dieses eine Mal, nur mein eigenes ist.
Zweites B uch
Indien oder
»Gratuliere, Sie kennen zu lernen« oder
Sechsunddreißig Geschichten über das Streben nach Hingabe
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In meiner Kindheit hielten wir Hühner. In der Regel waren
es etwa ein Dutzend, und wann immer uns eine Henne wegstarb - von einem
Habicht oder Fuchs geholt oder einer obskuren Hühnerkrankheit dahingerafft
wurde -, ersetzte mein Vater das verlorene Tier. Er fuhr dann zu einer
benachbarten Geflügelfarm und kehrte mit einem neuen Huhn zurück. Allerdings muss
man, wenn man ein neues Tier in die Hühnerschar einführt, sehr vorsichtig
sein. Man kann es nicht einfach zu den angestammten Hennen hineinwerfen, sonst
betrachten diese es als Eindringling. Vielmehr gilt es, die neue Henne mitten
in der Nacht, während die anderen schlafen, in den Hühnerstall zu schmuggeln.
Setzen Sie sie auf eine Stange neben die anderen und schleichen Sie sich auf
Zehenspitzen davon. Am Morgen, wenn die Hühner erwachen, nehmen sie von der
Neuen keine Notiz, sondern glauben nur: Sie muss schon immer da gewesen sein,
da ich sie nicht habe kommen sehen. Das Entscheidende dabei aber ist, dass sich
nicht einmal die Neue selbst erinnert, dass sie neu ist, und lediglich denkt:
Ich muss schon immer hier gewesen sein ...
Genauso gestaltet sich meine Ankunft in Indien.
Gegen halb zwei nachts landet mein Flugzeug in Mumbai. Es
ist der 30. Dezember. Ich suche mein Gepäck
und anschließend ein Taxi, das mich dann Stunde um Stunde aus der Stadt hinaus
zum Ashram trägt, der sich in einem abgelegenen Dorf befindet. Ich döse auf
dieser Fahrt durchs nächtliche Indien, wache hin und wieder auf, um aus dem
Fenster zu schauen, wo ich seltsame Spukgestalten dünner Frauen in Saris
erblicke, die mit Feuerholzbündeln auf dem Kopf die Straße entlangwandern. Um diese
Zeit? Busse ohne Scheinwerfer überholen uns, wir überholen
Ochsenkarren. Die Banyanbäume breiten ihr elegantes Wurzelwerk über die Straßengräben.
Um halb vier halten wir am Eingangstor des Ashrams, direkt
vor dem Tempel. Als ich aus dem Taxi steige, löst sich ein junger Mann in
westlicher Kleidung aus der Dunkelheit und stellt sich vor - es ist Arturo, ein
vierundzwanzigjähriger Journalist aus Mexiko und Anhänger meiner Meisterin,
und er ist da, um mich willkommen zu heißen. Während wir uns flüsternd vorstellen,
höre ich die ersten vertrauten Takte meiner Lieblingssanskrithymne. Es ist die Morgen-Arati, das erste Morgengebet, das jeden
Tag um halb vier, wenn der Ashram erwacht, gesungen
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