Gilbert, Elizabeth
Zweifel, dass ich damals für jeden Mitschüler in diesem Ashram eine
gewaltige Last gewesen wäre. Es war besser, viel besser, dass ich mich zuerst
in Italien ausgeruht, neue Kräfte getankt und mich erholt hatte. Denn diese
Stärke kann ich jetzt gebrauchen.
Sie wollen, dass man stark ist, wenn man hier ankommt,
denn das Leben im Ashram ist hart. Und dies - mit Tagen, die um drei Uhr früh
beginnen und um neun Uhr abends enden - nicht nur in körperlicher Hinsicht,
sondern auch in psychischer. Viele Stunden des Tages verbringt man in stummer
Meditation und Kontemplation, und nur wenig lenkt einen in dieser Zeit ab
beziehungsweise verschafft einem Erleichterung. Auf engstem Raum lebt man mit
Fremden zusammen im ländlichen Indien. Es gibt Kakerlaken, Schlangen und
Nagetiere. Das Wetter ist mitunter extrem - manchmal wüten wochenlang
Regenstürme, manchmal zeigt das Thermometer schon vor dem Frühstück vierzig
Grad im Schatten.
Nur eines werde geschehen, wenn man in den Ashram geht,
behauptet meine Meisterin: Man werde entdecken, wer man ist. Wenn Sie also
bereits am Rande des Wahnsinns stehen, wäre es ihr in der Tat lieber, Sie
kämen nicht. Weil nämlich, offen gestanden, keiner Lust hat, Sie mit einem
Holzlöffel zwischen den Zähnen hier rauszutragen.
4o
Meine Ankunft fällt fast mit dem Beginn des neuen Jahres
zusammen. Mir bleibt kaum ein Tag, um mich zu akklimatisieren, dann ist schon
Silvester. Nach dem Essen füllt sich der Hof mit Menschen. Wir sitzen auf dem
Boden - manche von uns auf dem kühlen Marmor, manche auf Strohmatten. Die
Inderinnen sind herausgeputzt wie für eine Hochzeit. Die Haare, eingeölt und
dunkel, fallen ihnen - zu langen Zöpfen geflochten - über den Rücken. Sie
tragen ihre schönsten Seidensaris und goldene Armreife, und jede von ihnen hat
einen strahlenden, edelsteinbesetzten Bindi auf der Stirn - ein schwaches Echo
des Sternenlichts über uns. Bis Mitternacht, bis zum Jahreswechsel wollen wir
im Freien chanten.
»Chanten« ist ein Wort, das ich gar nicht mag für eine
Praxis, die ich überaus liebe. Irgendwie assoziiere ich mit »Chanten« einen
dröhnenden und beängstigend eintönigen Gesang, wie Druiden ihn vielleicht um
ein Opferfeuer anstimmten. Aber wenn wir im Ashram chanten, klingt es wie
Engelsgesang. Normalerweise wird das Chanten als Responsorium ausgeführt.
Einige junge Männer und Frauen mit den schönsten Stimmen beginnen, indem sie
einen Vers vorsingen, den wir Übrigen dann wiederholen. Es ist eine meditative
Übung - man versucht, sich auf den musikalischen Fortgang zu konzentrieren und
die eigene Stimme mit der des Nachbarn zu verschmelzen, bis schließlich alle
wie aus einem Munde singen. Ich leide unter dem Jetlag und fürchte, dass ich
mich nicht bis Mitternacht wach halten kann und erst recht nicht die Energie
aufbringe, so lange zu singen. Doch dann beginnt die musikalische Soiree mit
einer Solo-Violine, die im Dunkeln einen lang gezogenen Ton des Verlangens
intoniert. Anschließend fällt das Harmonium ein, die trägen Trommeln, dann all
die Stimmen ...
Ich sitze im hinteren Teil des Hofs bei den Müttern, den
Inderinnen, die so bequem im Schneidersitz hocken und auf dem Schoß ihre
schlafenden Kinder halten. Der »Cantus« dieses Abends ist ein Schlaflied, ein
Klagegesang, geschrieben in einer Raga (Melodie),
die Mitgefühl und Hingabe ausdrücken soll. Wir singen in Sanskrit, wie stets
(einer alten Sprache, die in Indien nur noch für Gebet und religiöse Studien
gebräuchlich ist), und ich versuche, die Stimme der Vorsänger stimmlich zu
spiegeln, greife ihre Tongebungen auf wie kleine Ketten aus blauem Licht. Sie
geben die heiligen Worte an mich weiter, ich trage die Worte eine Weile und
gebe sie wieder zurück, und so gelingt es uns, ohne zu ermüden, singend Meilen
um Meilen zurückzulegen. Wie Seetang in der Brandung wiegen wir uns in der
dunklen Strömung der Nacht. Die Kinder um mich herum sind in Seide verpackt,
wie Geschenke.
Obwohl ich so müde bin, lasse ich meine kleine blaue Gesangskette
nicht fallen, sondern gerate in einen Zustand, in dem ich meine, Gottes Namen
im Schlaf zu rufen, aber vielleicht falle ich auch nur in den Brunnenschacht
dieses Universums. Um halb zwölf jedoch hat das Orchester den Rhythmus des
Chantens aufgegriffen und die Anwesenden zu purer Begeisterung aufgepeitscht.
Prächtig gekleidete Frauen mit Glöckchenarmreifen klatschen und tanzen und
versuchen, sich wie Tamburine zu schütteln. Die Trommeln
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