Gilbert, Elizabeth
wird. Ich deute auf den
Tempel und frage Arturo: »Darf ich ...?«, worauf er mir mit einer einladenden
Geste antwortet. Also bezahle ich den Taxifahrer, verstaue meinen Rucksack
hinter einem Baum, streife die Schuhe ab, knie nieder und berühre mit der Stirn
die Tempelstufe, schiebe mich dann behutsam hinein und geselle mich zu der
kleinen Gruppe größtenteils indischer Frauen, die diese wunderbare Hymne
singen.
Es ist die Hymne, die ich als »Amazing Grace des Sanskrit« bezeichne, ein Gesang voll andächtigen Verlangens. Und
es ist das einzige religiöse Lied, das ich auswendig kann, nicht, weil ich mich
darum bemüht hätte, sondern aus Liebe. Ich beginne, die vertrauten Worte auf
Sanskrit zu singen, von der schlichten Einleitung über die heiligen Lehren des
Yoga bis zu den anschwellenden Tönen des Gebets (»Ich bete an die Ursache des
Universums ... Ich bete an den Einen, dessen Augen die Sonne, der Mond und das
Feuer sind ... Du bist alles für mich, o Gott der Götter ...«) und zur letzten
großartigen Summe allen Glaubens (»Dies ist vollkommen, jenes ist vollkommen;
nimmst du das Vollkommene vom Vollkommenen, bleibt das Vollkommene«).
Die Frauen beenden ihren Gesang. Sie verbeugen sich
schweigend, gehen dann durch eine Seitentür über einen dunklen Hof in einen
kleineren Tempel, der von einer Öllampe schwach erhellt und vom Duft des
Weihrauchs erfüllt ist. Ich folge ihnen. Der Raum ist voller andächtiger Menschen
- Inder und Westler -, die sich gegen die frühmorgendliche Kälte in Wolltücher
gehüllt haben. Alle meditieren im Sitzen, wie Hühner auf der Stange, und völlig
unbemerkt schlüpfe ich, die neue Henne, zwischen sie. Ich sitze mit gekreuzten
Beinen, lege die Hände auf die Knie und schließe die Augen.
Seit vier Monaten habe ich nicht mehr meditiert. Seit vier
Monaten habe ich nicht einmal mehr ans Meditieren gedacht. Ich sitze
da. Mein Atem beruhigt sich. Ganz langsam und bewusst, Silbe für Silbe spreche
ich mir das Mantra einmal vor.
Om.
Na.
Mah.
Shi.
Va.
Ya.
Om Namah Shivaya.
Ich ehre die Gottheit, die in mir wohnt.
Dann wiederhole ich das Ganze. Wiederhole es noch einmal.
Und noch einmal. Eigentlich ist es für mich weniger ein Meditieren als vielmehr
ein behutsames Auswickeln des Mantras, so wie Sie das »gute« Porzellan Ihrer
Großmutter auspacken würden, nachdem es lange unbenutzt in einer Kiste auf dem
Dachboden gestanden hat. Ich weiß nicht, ob ich einschlafe oder irgendeinem
Zauber verfalle oder wie viel Zeit vergeht. Doch als an diesem Morgen endlich
die Sonne aufgeht und alle Anwesenden die Augen aufschlagen und um sich
blicken, scheint Italien zehntausend Meilen entfernt zu sein, und mir ist, als
hätte ich schon immer zu dieser Schar gehört.
38
»Weshalb praktizieren wir Yoga?«
Im Laufe einer besonders anspruchsvollen Yogastunde
stellte einer meiner Lehrer daheim in New York einmal diese Frage. Wir hatten
Rumpf und Glieder zu einer anstrengenden Dreiecksstellung verrenkt, und der
Lehrer ließ sie uns länger halten, als uns allen angenehm war.
»Warum praktizieren wir Yoga?«, fragte er noch einmal.
»Damit wir ein bisschen gelenkiger werden als unsere Nachbarn? Oder verfolgen
wir vielleicht einen höheren Zweck?«
Das Sanskritwort »Yoga« lässt sich als »Vereinigung«
übersetzen. Es leitet sich von der Wurzel yuj her, was
»ins Joch spannen« bedeutet oder auch, sich einer anstehenden Aufgabe mit der
Disziplin eines Ochsen zu widmen. Und im Yoga geht es darum, die Vereinigung
von Körper und Geist, Individuum und Gott, Gedanken und deren Quelle, Lehrer
und Schüler und sogar von uns selbst und unseren zuweilen doch sehr unflexiblen
Nächsten zu bewerkstelligen. Im Westen assoziieren wir Yoga vor allem mit den
inzwischen schon berühmten brezelartigen Körperverrenkungen, doch das ist nur Hatha-Yoga, nur ein Teil der Philosophie. Die Alten entwickelten diese
Dehnübungen nicht, um sich fit zu halten, sondern um Muskeln und Geist zu
lockern und so auf die Meditation vorzubereiten. Denn schließlich ist es kein Kinderspiel,
stundenlang still zu sitzen, während dich die Hüfte plagt und davon abhält,
die dir innewohnende Gottheit zu betrachten, weil du nur andauernd denkst:
Gott, tut mir diese Hüfte weh.
Aber Yoga kann auch bedeuten, Gott mittels Meditation zu
suchen, oder durch Studium und Gelehrsamkeit, durch die Praxis des Schweigens,
durch religiösen Dienst oder durch Mantras - die Wiederholung heiliger
Sanskritworte. Obwohl einige
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