Gilbert, Elizabeth
(Wenn ich das tue, finde ich das Mantra endlos und nervtötend.)
Oder macht sie einen Atemzug pro Wort? (Aber die Wörter sind unterschiedlich
lang! Wie kann man das ausgleichen?) Oder spricht sie das ganze Mantra, während
sie einatmet, und dann ein zweites Mal beim Ausatmen? (Wenn ich das versuche,
klingt es sehr gehetzt, und ich werde nervös.)
»Ich weiß nicht«, meint Corella. »Ich sag es nur... irgendwie.«
»Singst du es vielleicht?«, insistiere ich, schon ein
bisschen verzweifelt. »Hältst du einen bestimmten Rhythmus ein?«
»Ich sag es einfach.«
»Kannst du es mir vielleicht laut vorsprechen?«
Meine Zimmergenossin schließt die Augen und spricht laut
das Mantra, so wie es ihr in den Sinn kommt. Und tatsächlich: Sie sagt es
einfach nur. Sagt es ruhig, normal, leise lächelnd. Tatsächlich wiederholt sie
es sogar ein paarmal, bis ich unruhig werde und ihr das Wort abschneide.
»Aber langweilt es dich denn nicht?«, frage ich sie.
»Ah«, meint Corella und schlägt lächelnd die Augen auf.
Sie schaut auf ihre Uhr. »Zehn Sekunden sind vergangen, Liz. Und schon
langweilen wir uns?«
42
Am nächsten Morgen erscheine ich pünktlich um vier zum
Meditationskurs, mit dem hier jeder Tag beginnt. Eine Stunde lang sollen wir
schweigend dasitzen, aber ich absolviere die Minuten, als wären es Meilen -
sechzig brutale Meilen, die ich durchzustehen habe. Nach vierzehn
Meilen/Minuten verliere ich die Nerven, mir zittern die Knie, und ich bin völlig
frustriert. Was verständlich ist angesichts der Gespräche zwischen mir und
meinem Geist beim Meditieren, die ungefähr so ablaufen:
Ich: Okay,
meditieren wir also. Wenden wir uns unse rem Atem
zu und konzentrieren wir uns auf das Mantra. Om Namah
Shivaya. Om Namah Shiv...
Geist: Ich kann dir helfen!
Ich: Okay, gut,
Hilfe kann ich immer gebrauchen. Weiter also. Om Namah
Shivaya. Om Namah Shiv...
Geist: Beim
Ausdenken hübscher Meditationsbilder. Zum Beispiel ... Stell dir vor, du wärst
ein Tempel. Ein Tempel auf einer Insel! Und die Insel liegt im Meer!
Ich: Oh, das
ist wirklich hübsch!
Geist: Danke
schön. Ist auf meinem Mist gewachsen.
Ich: Aber an
welches Meer hast du dabei gedacht?
Geist: Das
Mittelmeer. Stell dir vor, du wärst eine von diesen griechischen Inseln, mit
einem alten Tempel darauf. Nein, lass, das ist zu touristisch. Weißt du was?
Vergiss das Meer. Meere sind zu gefährlich. Ich hab eine bessere Idee - stell
dir vor, die Insel liegt in einem See.
Ich: Können wir
jetzt vielleicht meditieren? Om Namah Shiv...
Geist: Ja!
Natürlich! Aber stell dir bloß nicht vor, der See ist voller ... Wie heißen die
Dinger ... ?
Ich: Jet-Skis?
Geist: Genau!
Jet-Skis! Die Dinger verbrauchen ja so viel Sprit! Sind wirklich eine Gefahr
für die Umwelt! Weißt du, welche Geräte auch so viel Sprit verbrauchen?
Laubbläser. Würde man nicht meinen, aber ...
Ich: Gut, gut, aber lass uns jetzt bitte meditieren, ja? Om Namah ...
Geist: Genau, und
ich werde dir dabei helfen. Weshalb ich dieses Bild von der Insel in einem See
oder im Meer jetzt sofort vergesse, denn das funktioniert ja offensichtlich
nicht. Stellen wir uns also vor, du wärst eine Insel in ... einem Fluss!
Ich: Oh, meinst du so etwas wie Bannerman Island im
Hudson?
Geist: Ja! Genau
! Super. Lass uns also - zu guter Letzt - über dieses Bild meditieren, stell
dir vor, du wärst eine Insel in einem Fluss. All die Gedanken, die beim Meditieren
vorübertreiben, sind natürliche Strömungen, die du ignorieren kannst, weil du
eine Insel bist.
Ich: Warte, ich dachte, ich war ein Tempel.
Geist: Stimmt,
tut mir Leid. Du bist ein Tempel auf einer Insel. Aber eigentlich bist du
beides, Tempel und Insel.
Ich: Bin ich auch der Fluss?
Geist: Nein, der
Fluss, das sind nur die Gedanken.
Ich: Halt! Hör bitte auf! Du machst
mich völlig meschugge!
Geist (verletzt):
Tut mir Leid. Ich hab ja nur helfen wollen.
Ich: Om Namah
Shivaya ... Om Namah Shivaya ... Om Namah Shivaya ...
Hier tritt dann eine viel versprechende
Pause von acht Sekunden ein. Dann aber ...
Geist: Bist du
jetzt sauer auf mich?
Und dann sperre ich japsend den Mund auf, als käme ich zum
Luftholen an die Wasseroberfläche, und mein Geist hat gewonnen; ich reiße die
Augen auf und gebe mich geschlagen. Tränenüberströmt. Ein Ashram sollte ein
Ort sein, an dem man seine Meditationspraktiken perfektioniert, doch der Druck
auf mich ist zu groß. Ich schaffe es nicht. Aber was soll ich tun? Jeden Tag
nach vierzehn Minuten
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