Gilbert, Elizabeth
schlagen - rhythmisch,
erregend. Während die Minuten verstreichen, ist mir, als würden wir gemeinsam
das Jahr 2004 zu uns heranziehen. Als hätten wir
es mit unserer Musik gefesselt und holten es jetzt über den Nachthimmel ein,
als sei dieser ein gewaltiges Fischernetz, das unter der Last all unserer
Schicksale fast zu zerreißen droht. Und was für ein schweres Netz es doch ist,
da es schließlich all die Geburten und Todesfälle, Tragödien, Kriege,
Liebesgeschichten, Erfindungen, Verwandlungen und Kalamitäten in sich birgt,
die uns allen im kommenden Jahr bestimmt sind. Und weiter singen wir und ziehen
es Minute um Minute, Stimme um Stimme, Hand über Hand näher und näher an uns
heran. Die Sekunden tröpfeln auf Mitternacht zu, und wir singen noch einmal
aus Leibeskräften, und mit einem letzten unerschrockenen Kraftakt ziehen wir
schließlich das Netz des neuen Jahres über uns,
decken den Himmel und uns mit ihm zu. Nur Gott weiß, was dieses Jahr für uns
bereithält, doch jetzt ist es da, und wir alle sind unter ihm.
Das ist, wenn ich mich recht erinnere, die erste Silvesterfeier
meines Lebens mit lauter Unbekannten. Es gibt niemanden, den ich zur Mitternacht
umarmen kann. Aber dass ich mich in dieser Nacht einsam gefühlt hätte, würde
ich nicht behaupten.
Nein, ganz bestimmt nicht.
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Man gibt jedem von uns hier Arbeit, und mir hat man - wie
sich herausstellt - das Schrubben der Tempelböden zugedacht. Da also findet
man mich nun mehrere Stunden am Tag - mit Bürste und Eimer bewaffnet, auf
kaltem Marmor kniend und vor mich hin schuftend wie die Stiefschwester im
Märchen. (Nebenbei bemerkt: Ich weiß um die Symbolhaftigkeit - das Schrubben
des Tempels, der eigentlich mein Herz ist, das Polieren der Seele, die profane
alltägliche Anstrengung, die es auch auf die spirituelle Praxis zu verwenden
gilt, auf dass das Selbst gereinigt werde, und so weiter.)
Meine Mit-Schrubber sind meist indische Teenager. Man gibt
diese Arbeit in der Regel jungen Leuten, weil sie zwar körperliche Energie,
aber kein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl voraussetzt; der Schaden, den man
anrichten kann, ist begrenzt. Ich mag meine Mit-Arbeiter. Die Mädchen sind wie
flatternde kleine Schmetterlinge, die viel jünger wirken als achtzehnjährige
Amerikanerinnen, und die Burschen gebärden sich wie ernste kleine Autokraten,
die einem viel älter vorkommen als ihre amerikanischen Altersgenossen.
Eigentlich herrscht im Tempel Sprechverbot, aber die Teenager halten sich nicht
daran, so dass die ganze Zeit über ein unaufhörliches Geschnatter im Gange ist.
Einer der Jungen, der den ganzen Tag neben mir schrubbt, hält mir todernste
Vorträge über die Art und Weise, wie ich meine Arbeit angehen soll: »Nimm
ernst. Mach pünktlich. Sei cool und locker. Nicht vergessen - alles, was du
machst, du tust für Gott. Und alles, was Gott macht, er macht für dich.«
Es ist eine ermüdende und anstrengende Tätigkeit, dennoch
fallen mir meine täglichen Arbeitsstunden beträchtlich leichter als die
täglichen Meditationsstunden. Die Wahrheit ist, dass ich wohl kein großes
Meditationstalent bin. Ich weiß, ich bin aus der Übung, aber ich war - ehrlich
gesagt - nie gut darin. Ich schaffe es wohl einfach nicht, meinen Geist zum
Stillhalten zu überreden. Als ich mich einmal bei einem indischen Mönch darüber
beklagte, meinte der: »Das ist bedauerlich, denn du bist die einzige Person in
der gesamten Weltgeschichte, die je mit diesem Problem zu kämpfen hatte.« Dann
zitierte er mir aus der Bhagavadgita, dem
heiligsten der alten Yogatexte: »O Krishna, der Geist ist rastlos, aufgewühlt,
stark und unbeugsam. Und so schwer zu bezähmen, scheint mir, wie der Wind.«
Meditation ist der Anker des Yoga und seine Schwingen.
Meditation ist der Weg. Meditation und Gebet sind nicht
dasselbe, obwohl es in beiden Praktiken um die Kommunion mit dem Göttlichen
geht. Gebet, so habe ich sagen hören, sei Sprechen mit Gott, Meditation aber
bedeute Zuhören. Nun raten Sie mal, was mir leichter fällt. Ich kann Gott den
lieben langen Tag mit all meinen Gefühlen und Problemen voll quasseln. Wenn es
allerdings Zeit würde, zu schweigen und zuzuhören na ja, das ist eine ganz
andere Geschichte. Wenn ich meinen Geist auffordere, still zu sein, ist es
wirklich verblüffend, wie schnell er sich 1. langweilt, 2. wütend, 3. deprimiert, 4. ängstlich oder 5. alles
zugleich wird.
Wie die meisten Humanoiden trage ich schwer an dem, was
die Buddhisten
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