Gilbert, Elizabeth
Zufriedenheit zu einem kommen.
Loszulassen ist natürlich ein beängstigendes Unterfangen
für all jene, die glauben, dass die Erde sich nur dreht, weil sie oben eine
Kurbel hat, die von uns selbst höchstpersönlich betätigt wird, und dass, wenn
wir diese Kurbel auch nur einen Augenblick losließen, tja, ... das Ende des
Universums hereinbräche. Aber versuch mal, sie loszulassen,
Groceries. Sitz mal still und hör auf, dich unaufhörlich
einzumischen. Sieh dir an, was passiert. Die Vögel fallen nicht tot vom Himmel.
Die Bäume verkümmern nicht und sterben nicht, die Flüsse sind nicht rot von
Blut. Das Leben geht weiter. Sogar die italienische Post wurstelt irgendwie
weiter und macht ihren Stiefel, ohne dich ... Warum bist du dir so sicher,
dass du jeden Augenblick bis ins Kleinste planen musst und dass das alles so
ungeheuer bedeutsam ist? Warum lässt du der Welt nicht einfach ihren Lauf?
Dieser Gedanke spricht mich an. Meinen Intellekt überzeugt
er. Wirklich. Dann aber frage ich mich wieder (mit all meinem rastlosen
Verlangen, all meinem aufgepeitschten Eifer und meinem ganzen, idiotisch
unersättlichen Wesen): Was mache ich nur stattdessen mit all meiner Energie?
Worauf sich folgende Antwort bei mir einstellt: Such Gott, schlägt mein Guru vor. Such Gott, so wie ein Mann, dessen
Kopf in Flammen steht, nach Wasser sucht.
50
Am nächsten Morgen, während der Meditation, kommen all die
alten, verhassten Gedanken wieder hoch. Inzwischen kommen sie mir vor wie diese
lästigen Telefon-Werber, die immer im ungünstigsten Moment anrufen müssen. Alarmiert
stelle ich beim Meditieren fest, dass meine Gedanken im Grunde doch nicht so
spannend sind. Eigentlich denke ich nur an wenige Dinge, und an die denke ich
permanent. Der landläufige Ausdruck dafür lautet wohl »Grübeln«. Ich grüble
über meine Scheidung und die ganze Qual meiner Ehe und all die Fehler, die ich
gemacht habe, und all die Fehler, die mein Mann gemacht hat, und dann (und
dieses düstere Kapitel ist eine unendliche Geschichte) beginne ich über David
zu brüten ...
Was langsam peinlich wird, wenn ich ganz ehrlich bin. Ich
meine - jetzt bin ich hier an diesem heiligen Ort der Einkehr mitten in Indien
und kann an nichts anderes denken als an meinen Exfreund? Wer bin
ich denn? Eine Achtklässlerin?
Und dann muss ich an etwas denken, das mir meine Freundin Deborah,
die Psychologin, einmal erzählt hat. In den achtziger Jahren fragte die Stadt
Philadelphia bei ihr an, ob sie nicht ehrenamtlich psychologische Beratung für
eine Gruppe kambodschanischer Boat People anbieten
könne, die kurz zuvor in der Stadt eingetroffen waren. Deborah ist eine
außergewöhnliche Psychologin, aber angesichts dieser Aufgabe war sie furchtbar
verzagt. Diese Kambodschaner hatten das Schlimmste erlitten, was Menschen
einander antun können: Vergewaltigung, Folter, Hunger, die Ermordung ihrer
Angehörigen direkt vor ihren Augen und anschließend lange Jahre in
Flüchtlingslagern und eine waghalsige Flucht über das offene Meer. Welche Hilfe
hatte Deborah diesen Menschen anzubieten?
»Aber rat mal«, fragte mich Deborah, »worüber all diese
Leute reden wollten, sobald sie die Chance hatten, sich einem Psychologen
anzuvertrauen?«
Es war immer dasselbe: Ich hab da
in meiner Zeit im Lager diesen Mann kennen gelernt, und wir haben uns
verliebt. Ich dachte, er liebt mich wirklich, dann aber wurden wir getrennt,
landeten auf verschiedenen Schiffen, und er bändelte mit meiner Cousine an.
Inzwischen ist er mit ihr verheiratet, aber eigentlich - behauptet er - liebt
er mich, ruft mich immer wieder an, und obwohl ich weif, dass ich ihn in die
Wüste schicken sollte, liebe ich ihn immer noch und kann nicht aufhören, an
ihn zu denken. Und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll...
Genauso sind wir. Kollektiv, als Spezies, ist dies unsere
emotionale Landschaft. Ich traf einmal eine alte Frau, fast hundert Jahre alt,
die mir erzählte: »Es gibt nur zwei Fragen, über die sich die Menschen die
ganze Geschichte hindurch erbittert gestritten haben. Wie sehr
liebst du mich? Und: Wer hat das Sagen?« Alles
andere ist irgendwie zu handhaben. Aber diese beiden Fragen sind unser aller
Ruin, behindern uns, verursachen Krieg, Kummer und Leid. Und unglücklicherweise
(oder auch zwangsläufig) schlage ich mich hier in diesem Ashram mit beiden
herum. Wenn ich stillsitze und meine Gedanken Revue passieren lasse, tauchen
nur sehnsüchtiges Verlangen und der Wunsch nach Kontrolle
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