Gilbert, Elizabeth
Selbstverständlich ist das nur meine Meinung; andere
Leute behaupten, sie zu lieben, wenn mir auch ein Rätsel ist, weshalb. Ich
glaube, sie geben es nur vor.
Die Gurugita ist
hundertzweiundachtzig Verse lang, die laut herauszubrüllen sind (was ich
bisweilen tue). Einschließlich Einleitungscantus und Schlusschor dauert das gesamte
Ritual etwa eineinhalb Stunden. Und das alles, nicht zu vergessen, vor dem
Frühstück und nachdem wir bereits eine Stunde meditiert und zwanzig Minuten
lang die erste Morgenhymne gechantet haben. Dass wir hier bereits um drei Uhr
früh aufstehen müssen, ist im Wesentlichen der Gurugita geschuldet.
Ich mag weder die Melodie noch den Text. Aber wenn ich das
irgendjemandem hier im Ashram sage, ernte ich sofort Protest: »Oh, aber sie ist
doch so heilig!« Sicher, aber das gilt auch für das Buch Hiob, und trotzdem
singe ich es nicht laut jeden Morgen vor dem Frühstück.
Die Gurugita darf sich
einer beeindruckenden Herkunft rühmen; sie ist ein Exzerpt aus einer uralten
heiligen Yogaschrift namens Skanda Purana, von der
der größte Teil verloren ging und von der nur wenig in andere Sprachen übersetzt
wurde. Wie viele yogische Schriften ist sie in Gesprächsform verfasst, ähnlich
wie ein sokratischer Dialog. Das Gespräch entspinnt sich zwischen der Göttin
Parvati und dem allmächtigen, alles umfassenden Gott Shiva. Parvati und Shiva sind
die göttlichen Verkörperungen der (weiblichen) Schöpferkraft und des
(männlichen) Bewusstseins. Sie ist die generative Energie des Universums, er
dessen gestaltlose Weisheit. Was immer Shiva sich vorstellt, lässt Parvati
entstehen. Er träumt, sie materialisiert es. Ihr Tanz, ihre Vereinigung (ihr Yoga) ist sowohl
die Ursache des Universums als auch seine Manifestation.
In der Gurugita fragt die
Göttin den Gott nach den Geheimnissen weltlicher Erfüllung, und er erzählt
ihr, dass die Liebe zum Guru das Mittel zur geistigen Befreiung sei und das
tägliche Singen dieser Liebeshymne zu höchster Vollkommenheit führe. Sie nervt
mich, diese Hymne. Ich hatte gehofft, im Laufe meines Ashram-Aufenthalts würde
sich meine Einstellung ändern. Im indischen Kontext - so die Erwartung - würde
ich lernen, das Ding zu lieben. Das Gegenteil war der Fall. In den paar
Wochen, die ich hier bin, hat sich die schlichte Abneigung gegen die Gurugita in Furcht
und Schrecken verwandelt. Ich habe begonnen, sie zu schwänzen und die
Morgenstunden auf andere Dinge zu verwenden, die mir viel förderlicher für
mein geistiges Wachstum erscheinen, wie zum Beispiel Tagebuch zu schreiben
oder zu duschen, oder ich rufe meine Schwester daheim in Pennsylvania an und
frage sie, wie's ihren Kindern geht.
Richard aus Texas macht mir Vorhaltungen deswegen. »Du
hast heute wieder mal bei der Geet gefehlt,
ist mir aufgefallen«, sagt er dann, und ich entgegne: »Ich kommuniziere auf
andere Weise mit Gott«, worauf er wiederum kontert: »Meinst du, indem du
ausschläfst?«
Gehe ich aber zum Chanten, regt mich die Geet nur auf.
Ich meine, richtig körperlich. Mir ist, als würde ich sie weniger singen als
hinter ihr hergezerrt werden, als trommle sie auf mich ein. Ich kriege
Schweißausbrüche von diesem Gesang. Das ist sehr merkwürdig, weil ich eher zu
den chronisch Verfrorenen gehöre, und im Januar ist es in diesem Teil Indiens
vor Sonnenaufgang noch kalt. Alle anderen haben sich in Wolldecken gehüllt und
Mützen aufgesetzt, um sich warm zu halten, ich hingegen schäle mich während der
Hymne aus all meinen Klamotten und dampfe wie ein geschundener Brauereigaul.
Wenn ich nach der Gurugita aus dem Tempel trete, steigt mein
Schweiß wie Dampf - wie scheußlicher grüner, stinkender Dampf - in die kalte
Morgenluft auf. Verglichen mit den heißen Gefühlswellen, die mich überkommen,
während ich das Ding zu singen versuche, ist die körperliche Reaktion aber
vernachlässigbar. Ich kann sie nicht einmal singen. Ich kann sie nur krächzen.
Voller Groll.
Habe ich erwähnt, dass sie hundertzweiundachtzig Verse
hat?
Daher habe ich vor einigen Tagen nach einer besonders
grässlichen Chant-Session beschlossen, den Rat meines hiesigen Lieblingslehrers
einzuholen - eines Mönchs mit einem wunderbar langen Sanskritnamen, der
übersetzt so viel heißt wie: »Er, der im Herzen des Herrn wohnt, welcher wohnt
in seinem eigenen Herzen.« Dieser Mönch ist Amerikaner, zwischen sechzig und
siebzig Jahre alt, klug und gebildet. Früher war er Professor an der New York University
und tritt
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