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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Love Pray Eat
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habe
Lust, Richard für diese Beleidigung zu ohrfeigen. Doch dann erkenne ich hinter
meiner Gekränktheit und Empörung die Wahrheit. Die unmittelbare,
offensichtliche, lachhafte Wahrheit.
    Er hat Recht.
    Das Feuer in mir erlischt so schnell, wie es aufgelodert
ist. »Du hast völlig Recht«, sage ich.
    »Ich weiß, dass ich Recht habe, Baby. Hör zu, du bist eine
starke Frau und gewöhnt, zu kriegen, was du haben willst, und in deinen letzten
paar Beziehungen hast du das nicht gekriegt, und deshalb bist du jetzt völlig
blockiert. Das Leben hat sich einmal nicht deinem Willen gebeugt. Und nichts
bringt einen Kontrollfreak mehr auf die Palme, als wenn ihm das Leben einen
Strich durch die Rechnung macht.«
    »Nenn mich bitte nicht einen Kontrollfreak.«
    »Aber du hast ein Problem mit der Kontrolle, Groceries.
Nun komm schon. Hat dir das noch keiner gesagt?«
    Na ja,... doch. Aber wenn
man sich von jemandem scheiden lässt, hört man nach einer Weile auf, sich all
die gemeinen Sachen anzuhören, die der andere einem zu sagen hat... Also reiße
ich mich zusammen und gebe es zu. »Okay, wahrscheinlich hast du Recht.
Vielleicht hab ich ein Problem mit der Kontrolle. Ist nur komisch, dass es dir
aufgefallen ist. Weil ich nicht glaube, dass es so sehr auffällt. Ich meine -
ich wette, die meisten Leute sehen mir dieses Problem nicht auf Anhieb an.«
    Richard aus Texas lacht so schallend, dass ihm fast der
Zahnstocher aus dem Mund fällt.
    »Nein? Sogar Ray Charles würde das sehen, Süße.«
    »Okay, ich glaube, ich hab jetzt genug, vielen Dank.«
    »Du musst lernen, wie man loslässt, Groceries. Sonst
machst du dich fix und fertig. Wirst nie wieder ordentlich durchschlafen. Dich
ewig drehen und wälzen und dir Vorwürfe machen, weil du so eine Versagerin
bist. Was ist nur mit mir los? Warum hab ich all meine
Beziehungen versaut? Warum bin ich so eine Niete? Lass mich
raten - mit solchen Fragen hast du dich doch gestern Nacht wieder mal stundenlang
rumgeschlagen.«
    »Okay, Richard, das reicht«, sage ich. »Ich will nicht,
dass du dich weiter in mich hineinversetzt und in mir herumtrampelst.«
    »Dann mach die Tür zu«, sagt mein großer Yogi aus Texas.
     
    49
     
    Als ich neun Jahre alt war, erlebte ich eine echte
metaphysische Krise. Das mag einem zwar früh erscheinen, aber ich war ein
altkluges Kind. Es war im Sommer zwischen der vierten und der fünften Klasse.
Im Juli sollte ich zehn werden, und der Übergang von neun zu zehn - von einer
einstelligen zu einer zweistelligen Zahl - versetzte mich in eine Panik so
ernsthaft und existenziell, wie sie normalerweise Leuten kurz vor ihrem
Fünfzigsten vorbehalten ist. Wie schnell das Leben
doch verging, dachte ich. Erst gestern - so schien es mir - war ich im
Kindergarten gewesen, und jetzt, auf einmal, wurde ich zehn. Bald würde ich ein
Teenager sein, dann mittleren Alters, dann alt und schließlich tot. Und auch
alle anderen alterten in einem Wahnsinnstempo. Bald würden alle tot sein. Meine
Eltern würden sterben. Meine Freunde. Meine Katze. Meine ältere Schwester ging
demnächst auf die High School, obwohl sie erst vor kurzem - so kam es mir vor
- in die erste Klasse gegangen war. Da konnte es ja offensichtlich auch nicht
mehr lange dauern, bis sie tot war. Was für einen Sinn sollte das alles haben?
    Das Merkwürdigste an dieser Krise war, dass es keinen eigentlichen
Auslöser gab. Weder war ein Freund oder Verwandter gestorben und hatte mir
dadurch einen ersten Eindruck von Sterblichkeit vermittelt, noch hatte ich
etwas über den Tod gelesen. Diese Panik, die ich im Alter von zehn Jahren
empfand, war nichts Geringeres als die spontane Erkenntnis des unvermeidlichen
Vormarschs der Sterblichkeit, und ich besaß kein spirituelles Vokabular, das
mir geholfen hätte, damit umzugehen. Wir waren Protestanten und zudem nicht
mal fromm. Nur vor dem Weihnachts- und dem Thanksgiving-Essen sprachen wir ein Tischgebet, die Kirche besuchten wir nur sporadisch.
Mein Vater blieb am Sonntagmorgen zu Hause und fand seine Andacht in einsamer
Farmarbeit. Ich sang im Chor, weil ich gerne sang; meine hübsche Schwester
mimte den Engel im Weihnachtsspiel. Meine Mutter nutzte die Kirche als
Hauptquartier, um in ehrenamtlicher Gemeindearbeit gute Werke zu vollbringen.
Doch nicht einmal in der Kirche war - soweit ich mich erinnere - viel von Gott
die Rede. Schließlich lebten wir in Neuengland, und das Wort Gott macht
Yankees häufig nervös.
    Ich fühlte mich ungeheuer hilflos. Am

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