Gilbert, Elizabeth
auf und beunruhigen
mich, und diese Unruhe hindert mich an jeder weiteren Entwicklung.
Als ich heute Morgen nach etwa einer Stunde unseliger
Grübelei wieder in meine Meditation einzutauchen versuchte, griff ich einen
neuen Gedanken auf: Mitgefühl. Ich bat mein Herz, mir doch zu einer
großzügigeren Einstellung gegenüber meinem Geist und meinen Gedanken zu
verhelfen. Konnte ich nicht vielleicht, statt mich für eine Versagerin zu
halten, akzeptieren, dass ich nur ein Mensch war - und zwar ein ganz
gewöhnlicher? Dann saß ich wieder schweigend da, hieß das Mantra willkommen,
begann die heiligen Worte zu wiederholen. Selbstverständlich rebellierte mein
Geist auf der Stelle. Wieder grübelte ich über meine Beziehungen, meinen Herzschmerz,
meine Fehler, meine Defekte. Was für ein braver Gaul mein Geist doch ist! Er
trottet so unbeirrbar dahin, nimmt jeden Morgen dieselbe Route, bleibt stets
vor denselben Türen stehen! Hier ist dein Brot, hier sind deine Semmeln ...
Aber heute ist etwas Neues passiert. Die Gedanken kamen
zunächst wie üblich, und auch die entsprechenden Gefühle stellten sich ein. Ich
empfand Frust, klagte mich an, fühlte mich einsam und traurig. Doch dann
sprudelte aus den tiefsten Tiefen meines Herzens ein wildes Gefühl hervor, und
ich sagte zu mir: »Für diese Gedanken werde ich dich nicht verurteilen.«
Mein Geist wollte protestieren und wandte ein: »Aber du
bist doch eine solche Versagerin, eine solche Verliererin, du wirst nie etwas
zustande bringen ...«
Und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als würde ein Löwe
in meiner Brust aufbrüllen und das Geplapper meines Geistes übertönen. Eine
Stimme dröhnte in mir so unendlich laut, dass ich mir tatsächlich die Hand vor
den Mund schlug, weil ich fürchtete, dass dieser Laut - wenn ich ihn hinausließ
- sogar Hochhausfundamente im entfernten Detroit erschüttern würde:
DU HAST JA KEINE AHNUNG, WIE STARK MEINE LIEBE IST!
Im Sturm dieser Liebeserklärung verflüchtigten sich meine
negativen Gedanken wie Vögel und Antilopen - entsetzt stoben sie davon. Und
Schweigen folgte ihnen. Ein intensives, vibrierendes, ehrfürchtiges Schweigen.
Befriedigt überblickte der Löwe in der riesigen Savanne meines Herzens sein
neuerdings so stilles Königreich. Dann leckte er sich die Lefzen, schloss die
gelben Augen und schlief wieder ein.
Und in dieser majestätischen Stille begann ich dann endlich
zu meditieren - über Gott (und mit ihm).
51
Richard aus Texas hat ein paar hinreißende Angewohnheiten.
Wann immer er mir im Ashram begegnet und an meinem abwesenden Blick abliest,
dass ich mit den Gedanken ganz woanders bin, fragt er: »Und wie geht's David?«
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, versetze ich dann.
»Du hast ja keine Ahnung, woran ich denke.«
Aber natürlich hat er Recht.
Eine andere Angewohnheit von ihm ist, mich vor dem
Meditationssaal abzupassen, weil es ihm gefällt, wie abgedreht und ausgeklinkt
ich da herausgekrochen komme. Als hätte ich mit Alligatoren und Geistern
gerungen. Nie, meint er, habe er jemanden erlebt, der so sehr gegen sich selbst
ankämpft. Dazu kann ich nichts sagen, richtig aber ist, dass das, was in
diesem dunklen Meditationsraum in meinem Innern abgeht, ganz schön intensiv
sein kann. An manchen Tagen scheint sich beim Meditieren überhaupt nichts zu
tun, dann aber frisst mich die Wut über meine störenden Gedanken geradezu auf,
und ein anderes Mal sinke ich widerstandslos in einen stillen Frieden. Die
heftigsten Erlebnisse aber stellen sich ein, wenn ich meine letzten Reserven
anzapfe und zulasse, dass sich ein wahres Energiegewitter in meine Wirbelsäule
entlädt. Es amüsiert mich jetzt, dass ich die Kundalini
Shakti ehedem als bloßen Mythos abtat. Wenn diese Energie mich
durchfährt, rattert sie wie ein niedrigtouriger Dieselmotor und richtet diese
eine schlichte Bitte an mich: Würdest du dich freundlicherweise
umstülpen, so dass Lungen, Herz und Innereien außen liegen und das ganze
Universum in dir drinnen ist? Und könntest du in emotionaler Hinsicht bitte das
Gleiche tun? Die Zeit fängt in diesem geräuscherfüllten Raum zu
spinnen an, und ich werde - taub, stumm und dumm - in alle möglichen Welten
versetzt und erlebe alle möglichen heftigen Gefühle: Feuer, Kälte, Hass,
Wollust, Angst... Wenn es dann vorbei ist, stehe ich zitternd auf und stolpere
hinaus, ausgehungert, entsetzlich durstig, geiler als ein Matrose auf
dreitägigem Landgang. Meist wartet Richard schon
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