Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
gesagt, sie sollen die Jägerin suchen.«
»Bring Illium zu einem Heiler.« Im Sturzflug schoss er zurück zum Dock. Bevor er von jemandem gesehen werden konnte, überzog er sich mit dem Zauber. Was Illium ihm mit letzter Kraft noch gesagt hatte, war sehr wichtig. Wenn Urams Kräfte noch nicht vollständig wiederhergestellt waren, dann konnte er mit Elena als zusätzlicher Last nicht weit geflogen sein.
Lebe, Elena, sagte er, wollte, dass sie kämpfte, aus der Dunkelheit, die ihren Geist gefangen hielt, ausbrach. Lebe, ich habe dir nicht erlaubt zu sterben.
Nichts. Stille. Eine noch nie zuvor erlebte Stille.
Lebe, Elena. Eine Kriegerin gibt sich niemals geschlagen. Lebe!
37
»Sei still«, murmelte Elena, als eine arrogante Stimme sie gewaltsam aus dem gnädigen Schlaf, in den sie endlich gefallen war, riss und ihr befahl aufzustehen. »Ich will schlafen.«
»Du wagst es, mir Befehle zu erteilen, Sterbliche?« Eiskaltes Wasser spritzte ihr ins Gesicht, und sie erwachte jäh in einem Albtraum.
Zunächst konnte sie die Eindrücke nicht recht einordnen. Ihr Verstand weigerte sich, alle Einzelteile zusammenzufügen. Und es gab so viele davon; abgerissene, entstellte und unerträglich anzuschauende. Ihr drehte sich der Magen um, die Übelkeit von der Kopfverletzung, als Uram ihr Gesicht aufs Pflaster geschmettert hatte, kehrte zurück und vermischte sich mit den Schrecken des Augenblicks.
Verzweifelt kämpfte sie dagegen an, ihre Angst zu zeigen. Diese Genugtuung wollte sie dem Ungeheuer nicht geben. Aber es war schwer. Alle hatten sich getäuscht– Sara, Ransom, selbst Raphael. Uram hatte nicht bloß fünfzehn Menschen getötet. Er hatte sich noch viele andere Opfer gesucht, Opfer, die niemand vermissen würde. Verrottende Gebeine, ein glänzender Brustkorb, Zeugnisse seines teuflischen Wahns lagen in diesem Raum verstreut. Ein Raum ohne Licht, ohne Luft. Eine Zelle. Eine Gruft. Ein…
Reiß dich zusammen!
Jetzt erwachten ihre Jägerinstinkte, Instinkte, die sie von Geburt an auszeichneten.
Als sie ihre Panik überwunden hatte und sich auf ihre Umgebung konzentrierte, fiel ihr auf, dass der Raum gar nicht stockdunkel war. Zwar hatte Uram die Fenster verdunkelt, dennoch sickerte durch die Ritzen etwas Licht– für Sonnenlicht war es jedoch zu grell und weiß. Wenn die Nacht schon hereingebrochen war, musste sie also eine ganze Weile bewusstlos gewesen sein. Dieses Licht war es auch, das sie die widerwärtige Wahrheit erkennen ließ. Wie Abfall lagen die zerfetzten Leichen herum. Aber nicht alle waren zerstückelt. An der Wand gegenüber sah sie den ausgetrockneten Körper eines einst menschlichen Wesens in Handschellen.
Dann auf einmal blinzelte es aus seiner ausgedörrten Schale, das Wesen lebte noch. »Oh mein Gott!«, entfuhr es ihr.
Das Ungeheuer, das neben ihr saß und nur noch rein äußerlich einem Erzengel glich, folgte ihrem Blick. »Ah, Sie haben Roberts Bekanntschaft eben gemacht. Er war mir so treu ergeben, ist mir ohne Murren über die Weltmeere gefolgt. Nicht wahr, Bobby?«
Urams grausames Mienenspiel machte ihr deutlich, dass sie bis zu diesem Augenblick das wahrhaft Böse nicht gekannt hatte. Robert war ein Vampir, so viel war klar. Jeder Mensch wäre in seinem Zustand längst tot gewesen– der Vampir sah aus, als habe man ihm jegliche Feuchtigkeit entzogen, bis auf die seiner großen, glänzenden Augen. Augen, die Elena um Erlösung anflehten.
Jetzt wandte Uram sich wieder ihr zu, seine Augen– wunderschön und leuchtend grün– strahlten vor Freude. »Er dachte, er sei etwas Besonderes, weil ich ihn mitgenommen habe. Leider hatte ich ihn in der Zwischenzeit völlig vergessen.« Plötzlich mischte sich in seinen vor Macht berstenden Blick Wut, blanke Wut. Und das glänzende Grün seiner Augen wurde auf einmal faulig.
Vollkommen unbeweglich blieb Elena in ihrer Ecke liegen, fragte sich, ob er ihr alle Waffen abgenommen hatte. An ihrem Körper konnte sie keine mehr fühlen, aber vielleicht hatte er doch ein oder zwei übersehen– das dünne, eispickelähnliche Messer in ihrem Haar oder die flache Klinge, deren Scheide in ihrer Schuhsohle verborgen war. Erleichtert fühlte sie den harten Widerstand, als sie die Zehen krümmte. Ransom hatte ihr die Stiefel einmal aus einer Laune heraus geschenkt– nie hatte sie ihn so geliebt wie in diesem Moment.
Uram durchdrang sie mit seinem Blick. »Aber mein treuer kleiner Bobby hat sich als sehr nützlich erwiesen«– ein Seitenblick auf
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