Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Wir sprachen über Urams Nachfolge.«
Lächelnd ließ er ihr die Lüge durchgehen. »Natürlich.«
»Hervorragend, wie du ihm Einhalt geboten hast«, sagte Elias.
Charisemnon nickte zustimmend. »Nur schade, dass er vor den Augen der Öffentlichkeit sein Ende gefunden hat. Eine Zeit lang ging sogar das Gerücht um, dass er für die Vermissten in der Stadt verantwortlich sei– wie ist es dir gelungen, diese Gerüchte zu zerstreuen?«
»Ich habe gute Mitarbeiter.« Schlangengift war auf den Gedanken gekommen, Robert »Bobby« Syles die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Er gab einen ausgezeichneten Sündenbock ab– und in Anbetracht seiner krankhaften Vorliebe für Kinder hatte auch niemand ein schlechtes Gewissen, ihn zu verunglimpfen. Es war ganz leicht gewesen: Dem Gericht wurden ein paar Informationen zugespielt, Gerüchte über seine abartigen Neigungen in Umlauf gesetzt und Beweise seiner illegalen Einreise vorgelegt. Die Welt– Menschen, Vampire und Engel gleichermaßen– wollte nicht an einen mörderischen Erzengel glauben. Einen Kampf zwischen zwei Erzengeln konnten sie hingegen akzeptieren– die meisten glaubten, es sei dabei um Herrschaftsansprüche gegangen, wollten es gerne glauben. In Uram ein Ungeheuer zu sehen wäre einfach zu viel gewesen, es hätte ihr Weltbild erschüttert.
Charisemnon äußerte sich mit einem »Hm«, während Titus nickte. Favashi ergriff als Nächste das Wort. »Wir sind froh, dich wieder bei uns zu haben, Raphael.«
Vielleicht meinte sie es wirklich so. Also verneigte er sich kurz vor ihr. Sie lächelte, ihr Gesicht war von solcher Schönheit, dass Königreiche ihretwegen untergegangen waren. Aber Raphael fühlte nichts, sein Herz gehörte einer Sterblichen. »Ihr besprecht also mögliche Nachfolger?«
»Um es genau zu sagen«, verbesserte Astaad, »den Mangel an Nachfolgern. Einen gibt es, der sehr bald schon ein Erzengel wird, aber bislang ist er es noch nicht.«
»Und Urams Herrschaftsgebiet braucht sofort eine neue Führung.« Michaela blickte Raphael über die Runde hinweg an, ihr listiges Glitzern wusste er nur allzu gut zu deuten. Aber sie sagte lediglich. »Einen Teil der Arbeit kann ich übernehmen, aber ich habe beide Hände voll mit meinen eigenen Ländern zu tun.«
»Wie edelmütig von dir, Michaela«, murmelte Neha mit einem schneidend ironischen Unterton. »Ist deine Gier nach Land so unersättlich?«
Michaelas Augen blitzten auf. »Und ich nehme an, du hast nicht das mindeste Interesse daran?«
So begann also die Verhandlungsrunde mit Vorschlägen und Gegenvorschlägen, Bündnissen und Oppositionen. Nur Raphael und die neben ihm sitzende Lijuan hielten sich aus allem heraus. Stattdessen berührte Lijuan ihn mit ihren blassen, zarten Fingern am Arm. »Hast du vor seinem Tod noch mit Uram gesprochen?«
»Nein. Er war bereits jenseits aller Worte.«
»Wie schade.« Sie zog die Hand zurück und legte sie wieder auf die Lehne ihres eigenen Sessels. »Ich hätte gerne Einzelheiten über die Folgen des Giftes erfahren.«
Überrascht zog Raphael eine Braue hoch. »Du willst es doch nicht etwa ausprobieren?«
Ihr leises Lachen ging in dem allgemeinen Gemurmel unter. »Nein, ich hänge an meinem gesunden Verstand.«
Raphael fragte sich, ob Lijuan tatsächlich bei Verstand war. Jason hatte noch mehr über ihren Hof in Erfahrung gebracht– die Hälfte ihrer »Höflinge« waren Wiedergeborene, die ihre Befehle widerstandslos befolgten. »Freut mich zu hören. Das Leben eines so mächtigen Erzengels wie Uram auszulöschen war schon schwierig genug. Gar nicht auszumalen, wenn du ein Blutengel würdest.«
Ein mädchenhaftes, doch zugleich boshaft schauriges Funkeln trat in Lijuans Augen. »Deine Schmeicheleien werden mir noch zu Kopf steigen.« Behaglich lehnte sie sich zurück. »Ich bin nur neugierig, weil er von Anfang an seine Instinkte besser unter Kontrolle hatte als die Neugeschaffenen. Hatte er eventuell recht damit, dass wir, wenn wir die problematische Phase überspringen könnten, am Ende enorme Macht erlangen?«
»Die problematische Phase, wie du es so schön nennst«, sagte er und verfolgte das kleine Intermezzo zwischen Neha und Titus– süßes Gift gegen eisernen Willen–, »macht uns zu Mördern ohnegleichen. Unseren jüngsten Nachforschungen zufolge hat Uram einschließlich seiner Diener in nur zehn Tagen zweihundert Lebewesen umgebracht.«
»Aber er hat sich seines Verstandes bedient.«
»Ausschließlich um noch mehr zu töten.«
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