Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
es selbst kaum glauben?«
Ihre Blicke trafen sich. »In der Stille bin ich… ein Anderer.«
»Was bedeutet diese ›Stille‹?«
Er schwieg.
»Sind Sie häufig in diesem Zustand?«
Er kniff die Lippen zusammen. »Nein.«
»Sind Sie jetzt wieder normal?« Noch während sie diese Frage stellte, war sie in die Küche gerannt, um Handtücher zu holen. Als sie zurückkam, lag er immer noch an derselben Stelle. »Warum hört die Blutung denn nicht endlich auf?« Von Panik ergriffen, wurde ihre Stimme immer lauter.
Er sah ihr zu, wie sie vergeblich versuchte, die Blutung zu stillen. »Ich weiß es nicht.«
Ihr Blick fiel auf die Waffe am anderen Ende des Zimmers. Vielleicht war es dumm von ihr hierzubleiben, doch im Gegensatz zu anderen kannte sie diesen Raphael. Was immer diese »Stille« war, sie hatte ihn in ein Monstrum verwandelt. Aber war sie denn besser? Diese Waffe, der Schaden… Sie griff nach ihrem Telefon und rief im Bunker an, ihre Finger waren ganz glitschig von Raphaels Blut. Seine blauen Augen verloren ihren Glanz, der Kopf kippte nach hinten. »Machen Sie schon«, sagte sie und hielt seinen Kopf in ihren blutverschmierten Händen. »Bleiben Sie wach, Erzengel. Kollabieren Sie mir hier nicht.«
»Ich bin ein Engel«, murmelte er, dabei wurde seine Stimme immer undeutlicher. »Kollaps ist etwas für Menschen.«
Am anderen Ende der Leitung wurde abgenommen. »Vivek?«
»Elena, du bist noch am Leben!«
»Verdammt, Vivek, was, zum Teufel, ist mit diesen Kugeln los?«
»Hab ich dir doch gesagt.«
»Wurden die schon mal getestet?«
»Ja. Sie wurden schon ein paarmal im Einsatz verwendet– man gewinnt damit zwanzig Minuten bis zu maximal einer halben Stunde Zeit. Die Heilung beginnt, sobald die Kugel getroffen hat.«
Sie blickte auf Raphaels zerschmetterten Flügel. »Er heilt gar nicht. Von Minute zu Minute wird es schlimmer.«
»Das ist unmöglich.«
Da er ganz offensichtlich keine Ahnung hatte, legte sie auf. »Sag schon, Raphael. Was soll ich jetzt tun?«
»Ruf Dmitri an.« Er wurde immer bleicher, sah beinahe grau aus; der Anblick dieser Todesmaske erfüllte ihr Herz mit Entsetzen.
Schuldgefühle und Angst um ihn schnürten ihr gleichermaßen die Kehle zu, sie rief im Erzengelturm an und wurde umgehend zu Dmitri durchgestellt. »Kommen Sie in meine Wohnung«, befahl sie ihm.
»Das ist nicht…«
»Ich habe Raphael verletzt. Er blutet, und die Blutung lässt sich nicht stillen.«
Einen Wimpernschlag lang Stille. »Er ist unsterblich.«
»Sein Blut ist so rot wie meins.«
»Wenn Sie ihm geschadet haben, dann töte ich Sie mit kleinen, winzig kleinen Bissen.« Er hängte ein.
»Dmitri ist auf dem Weg hierher«, teilte sie Raphael mit, während ihr das Telefon aus der Hand rutschte. »Ich glaube, er hat keine besonders hohe Meinung von mir.«
»Er ist bloß loyal.« Eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, ließ ihn unglaublich jungenhaft aussehen.
Wieder wurde ihr Bein von einem Blutstrahl getroffen, heiß und dickflüssig. »Warum, zum Teufel, heilen Sie denn nicht?«
Einen Moment lang leuchteten die glasigen blauen Augen auf. »Sie haben mich offenbar ein ganz klein wenig zu einem Sterblichen gemacht.«
Das waren seine letzten Worte, bevor er bewusstlos wurde– wahrscheinlich nur der Schock, hoffte sie. Als Dmitri mit mehreren anderen Vampiren eintraf, saß sie immer noch an Raphaels Seite. Die Vampire hatten sich erst gar nicht die Mühe gemacht zu klopfen, sie hatten die Tür gleich aufgebrochen.
»Nehmt die Jägerin fest.« Dmitri würdigte sie keines Blickes, während seine Lakaien sie von Raphael wegzerrten.
Sie hätte sich ja gewehrt, doch jeder Widerstand war zwecklos. Es waren einfach zu viele, außerdem hatte sie keine Waffe mit Kontrollchip bei sich. Jede dieser Waffen trug eine spezielle Seriennummer, damit wurde ihr Einsatz von der VSB und der Gilde gleichermaßen überwacht; ausgegeben wurden die Chips nur bei einer Jagd oder wenn das Leben eines Jägers nachweislich von einem Vampir gefährdet wurde. Offiziellen Verlautbarungen zufolge wollte man verhindern, dass die Jäger zu sicher wurden und sich dadurch in Gefahr brachten; doch alle wussten, dass es an den mächtigen Vampiren lag, denen es nicht behagte, irgendeinem dahergelaufenen und verärgerten Jäger schutzlos ausgeliefert zu sein. In diesem Moment war ihr das ganz gleichgültig. »Helfen Sie ihm!«
Dmitri bedachte sie mit einem bösen Blick. »Seien Sie still. Sie sind nur deshalb noch am Leben, weil
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