Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
und die Schweißperlen, die ihr den Rücken hinunterliefen, gefroren zu Eis. »Was für eine Waffe?«
Wie von einer stürmischen Böe erfasst, peitschte ihm der Wind die Haare aus dem Gesicht, doch er hielt ihr anscheinend mühelos stand. Sein Gesicht war von so reiner Schönheit, dass ihr Herz einen Sprung machte. Als seien seine klaren, männlichen Gesichtszüge von einem großen Künstler modelliert worden. Ganz zweifellos war er der schönste Mann, den sie je gesehen hatte.
Vielleicht bin ich das nur für dich.
Abrupt wurde sie aus ihren Träumereien gerissen. Und diesmal war sie sich sicher, dass er ihre Gedanken nicht beeinflusst hatte– ihre eigene Dummheit war schuld daran. »Was für mich?«, fragte sie, einfach um ihn zum Weiterreden zu bringen.
Schön.
Sie schnaubte verächtlich. »Glaub mir, Himmelsknabe, alle Frauen drehen sich nach dir um.«
Die meisten Frauen sehen nur Grausamkeit in mir, finden mich zu grausam, um schön zu sein.
Überrascht von dieser ehrlichen Selbsteinschätzung, sah sie ihn auf einmal mit anderen Augen an. Ja, er war grausam. Er war nicht gezähmt genug, um einfach nur als gut aussehend bezeichnet werden zu können. Er war stark und gefährlich, der Inbegriff dessen, was sie als Jägerin anzog. Ihr ganzes Leben lang war sie immer zu stark, zu schnell, zu unweiblich für sterbliche Männer gewesen. Die Männer mochten sie, doch früher oder später fühlten sie sich schwach und unmännlich in ihrer Nähe.
Nie hatte sie sich anmerken lassen, wie sehr es sie verletzt hatte, doch es hatte sie verletzt. Vielleicht war sie nicht so ein Püppchen wie Beth, aber sie war ganz bestimmt eine Frau. Und ihr gefiel die Spezies Mann, ganz besonders dieser Mann. »Sie sind imstande, grausam zu sein«, sagte sie ruhig, »möglicherweise auch, Schreckliches zu tun, aber Sie haben die Grenze zum wahrhaft Bösen noch nicht überschritten.«
Nein?
Schweißnass lag ihre Hand auf der Waffe. »Nein.«
Sie klingen sehr überzeugend. Und doch haben Sie mich heute Morgen der Vergewaltigung bezichtigt.
Da ging ihr Temperament mit ihr durch. Auch wenn ihr der gesunde Menschenverstand davon abriet, ignorierte sie die Warnung und zog ganz offen ihre Pistole. »Heute Morgen haben Sie sich gewaltsam etwas zu nehmen versucht, das ich Ihnen mit ein bisschen Geduld vielleicht auch so gegeben hätte.«
Wie offen Sie sind.
»Ich sagte ›vielleicht‹. Doch Ihre Chancen haben Sie in dem Moment verspielt, als Sie Ihre Nummer abgezogen haben. Ich lasse mich nicht zum Sex drängen.« Nicht einmal von einem Sexgott von Engel.
Anscheinend dachte er noch einmal darüber nach. Ihre Blicke trafen sich durch das Glas hindurch. Er zuckte mit den Schultern. Sex ist sowieso bedeutungslos.
Irritiert blinzelte sie. Das passte überhaupt nicht zu dem sinnlichen Mann, der sie erst heute Morgen wie seine Lieblingsschokolade gierig verschlungen hatte. »Geht es Ihnen gut?«, hakte sie nach und fragte sich dabei, ob er vielleicht auf irgendwelchen himmlischen Drogen war.
Anstatt zu antworten, sprengte er die sie trennende Glasscheibe. Alles geschah so schnell, dass sie kaum Zeit hatte, ihren Arm schützend vor die Augen zu halten. Erst war die Scheibe noch da, und im nächsten Moment schon lag sie in großen Scherben beinahe ordentlich auf ihrem Teppich. Kein einziger Splitter hatte sie getroffen. Als sie den Arm herunternahm, sah sie durch ein riesiges quadratisches Loch in die Dunkelheit, der Wind trat auf sanften, seidenen Schwingen in ihre Wohnung.
Raphael war nirgends zu sehen.
Sie hatte Angst, doch nicht um sich selbst; sie warf einen Blick auf die Pistole in ihrer Hand. Mit zitternden Fingern sicherte sie die Waffe. Aus einer Art Selbsterhaltungstrieb hatte sie instinktiv abgedrückt, dabei hatte sie nicht auf sein Gesicht, sondern auf seine Flügel gezielt, wie Vivek es ihr geraten hatte. Ein Engel ohne Flügel…
»Oh Gott.« Vorsichtig stieg sie über die gewaltigen Scherben– acht exakte Dreiecke– bis zum Rand und sah hinab.
Hinter ihr flüsterte der Wind: »Zweifellos keine Höhenangst.«
Hätte er sie nicht fest um die Hüfte gefasst, wäre sie bestimmt gefallen. »Verdammt! Sie haben mich zu Tode erschreckt!« Sie versuchte sich aus seiner Umarmung zu winden.
Immer noch hielt er sie, jetzt schlang er beide Arme um ihre Hüften. »Benehmen Sie sich, Elena.«
Der merkwürdige Klang in seiner Stimme ließ eine Alarmglocke in ihr läuten. Unweigerlich musste sie an ihre anfänglichen Überlegungen
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