Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
denken– es gab Schlimmeres als den Tod. »Haben Sie vor, mich fallen zu lassen?«
»Gerade haben Sie doch selbst gedacht, dass ich Sie eher foltern als umbringen würde.«
Sie explodierte: »Verschwinden Sie… aus… meinem… Kopf!« Mit vor Empörung zusammengekniffenen Augen nahm sie alle Kraft zusammen und stieß sich von ihm ab. Es war eine dumme, menschliche Reaktion, doch schließlich war sie ein Mensch, mit allem, was dazugehörte.
Hinter ihr sog Raphael geräuschvoll die Luft ein. Überrascht verdoppelte sie ihre Anstrengungen loszukommen, auch wenn sich unter ihr spiralförmig die Leere eines tödlichen Falls auftat. Jetzt schaute Elena nicht mehr weg– lieber sah sie dem Tod ins Auge, als dass sie jemanden in ihre Gedanken eindringen ließ. Denn letztendlich war das auch eine Art von Inbesitznahme! Verdammt noch mal, sie würde nicht kampflos untergehen. Sie wechselte die Pistole in die andere Hand. Diesmal würde sie mit voller Absicht auf seine Flügel zielen.
»So, so«, sagte Raphael an ihrem Ohr. »Offenbar haben die geborenen Jäger auch noch andere Fähigkeiten.«
Ihr Kopf schmerzte. Doch sie hielt den Gegendruck aufrecht, in der Hoffnung, dass ihr Gehirn das bald ganz automatisch tun würde. Natürlich hätte das keine Bedeutung mehr, wenn sie jetzt nicht von ihm freikäme. Denn ihr wurde zunehmend deutlich, dass das, was mit Raphael im Augeblick nicht stimmte, außerordentlich gefährlich für sie war. »Warum sind Sie hier? Weil ich Dmitri aufgeschlitzt habe?«
»Er hatte den Befehl, Sie nicht anzurühren.«
Erschöpft gab sie ihre Gegenwehr auf und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Mit Leichtigkeit hielt er sie. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Sein Kiefer ist mittlerweile ganz geheilt.«
Die nächtliche Dunkelheit war zum Greifen nah, die Lichter vom Haus gegenüber schienen so hell, dass es aussah, als stünde sie am Rande der Welt. Doch die wahre Bedrohung war nicht die Leere vor ihr. »Stehen Sie auf Gewalt?«
»Nein.«
»Mir wehzutun«, sagte sie drängend, »mich bluten zu sehen, davon träumt Dmitri. Macht Sie das auch an?«
»Nein.«
»Warum, zum Teufel, halten Sie mich dann hier oben über den Abgrund?«
»Weil ich es gerade möchte .«
Und in dieser Stimmung, das wusste sie, wäre er imstande, sie zu vernichten.
Also schoss sie auf ihn. Ohne Warnung, keine zweite Chance. Blindlings feuerte sie hinter sich. In dem Moment, in dem sich sein Griff lockerte, warf sie sich zur Seite. Genauso gut hätte sie stürzen können, doch sie verließ sich auf ihre Reflexe, und die ließen sie nicht im Stich.
Sie landete auf den riesigen Spiegelglasscherben. Zwar hielt er ihr Gewicht aus, doch als sie sich festklammerte, um nicht in die stockfinstere Nacht zu rutschen, schnitt sie sich die Wange und beide Handflächen auf. Sobald sie einen festeren Stand hatte, schwang sie sich mit einem kunstvollen Überschlag über das Glas hinweg in die Wohnung, wo sie sich schließlich auf dem Teppich kauernd wiederfand.
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah Raphael vor sich. Er lag zusammengekrümmt auf dem Scherbenhaufen, den Kopf an den Tisch gelehnt, auf den sie vor Stunden das Telefon gelegt hatte– so kam es ihr zumindest vor. Er starrte auf seinen Flügel, und als sie seinem Blick folgte, wurde ihr übel.
Die Waffe hatte genau das getan, was Vivek versprochen hatte. Beinah die gesamte untere Hälfte des einen Flügels war zerstört. Was Vivek ihr hingegen nicht gesagt hatte, war, dass ein Engel blutete, wenn seine Flügel verletzt waren. Und sein Blut war dunkelrot. Es tropfte auf das Glas und rann von der glatten Oberfläche hinunter auf ihren Teppich. Zitternd erhob sie sich. »Es heilt wieder«, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Wenn sie ihn nur nicht zum Krüppel gemacht hatte… »Du bist doch unsterblich. Das heilt wieder.«
Er schaute auf, diese fabelhaften, unwirklich blauen Augen schauten sie voll benommenem Unverständnis an. »Warum haben Sie auf mich geschossen?«
»Weil Sie mir Angst eingeflößt haben– wahrscheinlich hätten Sie mich ein paarmal über die Brüstung hinuntergeworfen und mich dann wieder aufgefangen, nur um mich vor Entsetzen schreien zu hören.«
»Was?« Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf, wie um ihn freizubekommen, dann starrte er auf das Loch, wo einmal das Fenster gewesen war. »Ja, Sie haben recht.«
Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. »Sie waren doch mittendrin– und jetzt klingen Sie so, als könnten Sie
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