Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
die Männer brachten derweil das Essen von dem hölzernen mit Gold verzierten Teewagen zum Tisch. »Auf den Neuanfang.« Ihr Blick war auf Elena gerichtet.
Raphael kämpfte mit dem animalischen Verlangen, etwas zu unternehmen, um Elena vor einer Gefahr zu schützen, die sie unmöglich überleben konnte … aber schließlich hatte seine Jägerin ja auch ihn überlebt. »Auf die Veränderung«, sagte er.
Lijuans Augen wanderten zu Raphael, aber sie stellte die kleine Variation des Trinkspruchs nicht infrage. »So sei es.« Mit einer unauffälligen Geste bedeutete sie den drei Männern zu gehen, und sie verschwanden ebenso lautlos, wie sie gekommen waren.
»Kein Publikum?« Raphael reichte Elena einen kleinen Teller mit süßem Kuchen aus roten Bohnen, von denen er wusste, dass sie sie gern mochte.
»Heute nicht.« Lijuan beobachtete, wie Elena ihren Kuchen aß. »Findest du am Essen immer noch Genuss, Raphael?«
»Ja.« Die Antwort war leicht gewesen. Immer noch war er auf dieser Erde, in dieser Welt fest verwurzelt. »Isst du denn nicht mehr?« Eigentlich war es reine Spekulation, denn er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass sie zustimmend nicken würde.
»Essen ist überflüssig geworden.« Sie nippte an ihrer Teetasse. »Wenn Freunde zu Gast sind, dann mache ich mir die Mühe, aber …«
Raphael verstand, was sie sagen wollte. Verhungern würde kein Erzengel, selbst wenn er oder sie völlig das Essen einstellen würde. Doch der Mangel an Nahrung würde irgendwann zu einem Kräfteverlust führen. Vielleicht würde es Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern, aber der Verlust könnte irreparabel sein. Ein Erzengel konnte ein solches Risiko nicht eingehen.
Lijuan hatte sich darüber hinweggesetzt. Was die Frage aufwarf, woraus sie jetzt ihre Kraft zog.
»Blut und Fleisch?«, fragte er. Ihm war aufgefallen wie außergewöhnlich still Elena neben ihm war. Nach außen hin konnte es durchaus den Anschein erwecken, dass sie zu eingeschüchtert war, um sich an dem Gespräch zu beteiligen. Doch er wusste nur zu gut, dass sie ganz genau zuhörte, ihr Wissen weiter ausbaute, jede potenzielle Schwäche registrierte.
»Das wäre Degeneration«, sagte Lijuan, ihr Haar bewegte sich, als würden Geisterfinger es durchkämmen, »und bei mir ist es die Evolution.«
Erst hinter ihren verschlossenen Schlafzimmertüren ließ Elena ihrem Entsetzen freien Lauf. »Sie ist … was ist sie?«
»Macht in ihrer reinsten Form.« Er öffnete die bemalten Holztüren, die auf einen kleinen Innenhof und von dort aus auf den Balkon führten. »Komm. Die Luft ist frisch und reinigend.«
Sie ergriff seine ausgestreckte Hand, ließ sich von ihm in die prickelnde Winterluft hinausgeleiten. Wie ein buntes Sternenmeer erstreckte sich die Verbotene Stadt unter ihnen, immer noch drehten sich die Tänzer im Haupthof elegant, während die Musiker so schön und schwermütig spielten, dass Elenas Augen sich mit Tränen füllten.
Eng umschlungen und den Kopf an seine Schulter gelehnt, schöpfte Elena tief Atem. Endlich. Wie eine Ertrinkende sog sie die Luft in die Lungen, ihre Kehle entspannte sich mit einem erleichterten Zittern. »Diese Musik … was ist das für ein Instrument?«
»Ein Erhu.«
Lange Zeit standen sie einfach nur da, tranken die Musik. Elena fand als Erste die Sprache wieder. »Du glaubst also nicht, dass sie ihre Macht von anderen bezieht?«
»Nein.« Raphael strich ihr mit den Händen über die Flügel, die Welle der Gefühle, die sie plötzlich ergriff, machte sie froh, zeigte sie ihr doch, dass sie im Gegensatz zu dem Geschöpf, das ihr in diesem stummen Zimmer gegenübergesessen hatte, am Leben und sehr lebendig war. »Wenn das so wäre, sähen ihre Höflinge nicht so gesund und munter aus. Lijuan hat immer zuerst in ihrem eigenen Sandkasten gespielt.«
»So wie mit den Wiedergeborenen.« Wieder überlief es sie kalt, sie schob die Hand unter Raphaels Hemd, um die Wärme seines Körpers zu spüren. »Dieser Vampir – hat nach Sonnenschein und Farbe gerochen. Er war neu … frisch.«
»Er glaubt, eine zweite Chance bekommen zu haben«, sagte Raphael und vergegenwärtigte sich noch einmal, wie loyal diese dunklen Augen Lijuan angeschaut hatten.
»Wann fangen sie denn an zu verwesen?«, zwang sie sich zu fragen.
»Jason ist schon fast hier.« Sein Meisterspion kam immer näher, das spürte er. »Er wird uns die neuesten Neuigkeiten bringen. Aber soweit wir wissen, hängt das nicht nur von dem Energieaufwand ab, sondern
Weitere Kostenlose Bücher