Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
jedoch nie zeigte.
»Lady Lijuan.« Den offiziellen Titel hatte sie von Jessamy erfahren, ihre Stimme klang ganz normal. Wie ihr das gelang, wusste Elena selbst nicht.
Lijuans Augen blieben an Elenas Hals hängen. »Du trägst gar keine Kette.«
Obwohl jähe Wut und Abscheu sie überkamen, senkte sie den Blick nicht. »Ich ziehe Raphaels Geschenk vor.«
»Ein Messer – diese Art von Schmuck war in einem anderen Jahrhundert beliebt.« Lijuan wandte ihre Aufmerksamkeit nun anderen Dingen zu, als spielte die Halskette, die Elena so viel Kummer bereitet hatte, gar keine Rolle mehr. »Was für wunderschöne Flügel. Zeigst du sie mir?«
Am liebsten wollte Elena dieser Kreatur gar nichts von sich zeigen, aber der Wunsch war höflich vorgebracht worden. Und sie würde es nicht zu einem politischen Zwischenfall kommen lassen, nur weil Lijuan solch ein unglaubliches Scheusal war. Elena trat einen Schritt vor, um Platz zu haben, und breitete dann die Flügel aus, die ihr Erzengel ihr geschenkt hatte, als er ihr das Leben schenkte. Doch als Lijuan Anstalten machte, sie anzufassen, klappte sie sie sofort wieder zu.
Raphael ergriff das Wort: »Es sieht dir aber gar nicht ähnlich, das Protokoll zu verletzen.«
»Verzeihung.« Lijuan ließ die Hand sinken, aber ihre Augen ruhten noch auf dem sichtbaren Teil der Flügel. »Meine einzige Entschuldigung ist, dass sie außergewöhnlich sind.«
Elena wünschte, sie könnte die Flügel noch enger an sich ziehen. »Vielen Dank!«
Wie selbstverständlich nahm Lijuan Elenas Dank entgegen. »Meine eigenen sind, wie du sehen kannst, sehr schlicht.« Sie entfaltete ihre Flügel.
Sie waren dezent taubengrau. Zart. Exquisit in ihrer seidigen Pracht. »Schlicht vielleicht«, hörte Elena sich sagen, »aber dafür umso schöner.«
Lijuan faltete ihre Flügel wieder zusammen. »So aufrichtig. Macht das ihre Faszination aus?«
Raphael antwortete mit einer indirekten Frage. »Dir liegt wenig an irdischen Gefühlen.«
»Ach, aber du faszinierst mich.« Lijuan tätschelte seine Hand und deutete auf die Sitzgruppe. »Ich dachte, wir könnten ganz zwanglos und bescheiden zusammen das Abendessen einnehmen.«
Bei dieser Bemerkung musste Elena sich auf die Zunge beißen. Der Raum war kein schlichtes Esszimmer, sondern vielmehr über alle Maßen prächtig. Die hintere Wand bestand aus goldumrandeten, verspiegelten Paneelen, an der rechten Wand hingen Teppiche, die gewiss ein Vermögen wert waren, und durch die vordere Fensterfront konnte man Höflinge in festlicher Stimmung in ihren eleganten Kleidern bewundern. Die linke Wandseite, vor der sie Platz nehmen sollten, war die Schmetterlingswand.
Widerstrebend näherte sich Elena der Sitzgruppe, stellte sich neben einen mit fantastischem Jadegrün bezogenen Stuhl, und ihr Blick glitt unwillkürlich zu den für immer in stasis erstarrten Geschöpfen hinüber. »Da ist ja überhaupt kein Glas davor«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Wie verhindern Sie denn ihren Verfall?«
Wieder dieses klingende Lachen. Ihr wurde eiskalt, als sie sich die Bedeutung ihrer Worte klarmachte.
»Hast du ihr denn mein kleines Geheimnis nicht verraten, Raphael?« Ihre Augen blitzten voll mädchenhaftem Schalk.
Unheimlich.
Raphael berührte sie sanft im Rücken. »So groß ist das Geheimnis nun auch nicht mehr. Favashi hat gestern mit mir darüber gesprochen.«
»Aber du hast es vor allen anderen gewusst.« Lijuan setzte sich in einen Stuhl, der mit seiner stützenden Mittellehne und den ausgeschnittenen Seiten genügend Platz für Flügel bot. »Wie geht es denn dem schwarz geflügelten Engel?«
Raphael wartete, bis Elena sich gesetzt hatte, bevor er neben ihr Platz nahm. »Jason freut sich schon auf den Ball.«
Unter den höflichen Worten brodelte es gefährlich, Elena spürte eine brennende Hitze in sich aufsteigen. Raphael hatte ihr erzählt, dass Jason von einem der Wiedergeborenen verletzt worden war. Jetzt fragte sie sich, ob der Angriff mit Absicht geschehen war. Eine Warnung?
Lijuan hob gebieterisch die Hand, und der Körper eines leuchtend blauen Schmetterlings fiel von der Wand direkt in ihre Hand. Die Nadel hatte sich gelöst und war lautlos auf den Teppich gefallen. »Und dieser Junge? Der Hübsche?«
»Ich habe entschieden, dass es besser ist, wenn Illium nicht mitkommt«, sagte Raphael sogleich. »Er wäre vielleicht eine zu große Versuchung gewesen.«
Lijuan ließ den Schmetterling auf den Tisch fallen und lachte, diesmal war es dunkler, ein
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