Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
»Es lockt die Unsterblichkeit, die Hoffnung, dass Lijuan einen Weg finden wird, sie für immer am Leben zu erhalten. Manche würden alles dafür geben.«
In dieser Bemerkung steckte noch mehr, der Unterton ließ eine Fülle von Bedeutungen erahnen. Elena musterte das schöne, unergründliche Gesicht des exotischen Engels, der immer ein Schatten war, dessen rußschwarze Flügel übergangslos mit der Nacht verschmolzen. »Nur für ein Versprechen?« Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe das einfach nicht, denn sie sind ja in Wahrheit weniger als Sklaven.«
»Du hast die Unsterblichkeit nie begehrt«, antwortete Raphael. »Du verstehst also dieses Verlangen nicht.«
Darüber musste sie erst einmal nachdenken. »Vielleicht tue ich es doch«, sagte sie und wünschte sich, es wäre anders. »Mein Schwager liebt meine Schwester … aber er hat nicht erst abgewartet, bis auch sie als Kandidatin angenommen wurde. Das ewige Leben lag ihm mehr am Herzen als die Liebe zu meiner Schwester.« Und jetzt würde Beth alt werden, während Harry für immer jung blieb.
Harry hatte geschworen, bei Beth zu bleiben, und Elena glaubte ihm. Aber sie fragte sich, wie Beth damit zurechtkäme. Würde ihre Schwester ihren Mann trotzdem weiter lieben, auch wenn sie wusste, dass sie erst an zweiter Stelle bei ihm kam, nach der Unsterblichkeit? Dass sie eines Tages sterben würde, und Harry dann eine Neue kennen-und lieben lernen könnte?
Ihr Blick verschmolz mit dem Raphaels, eine zentnerschwere Last lag ihr auf der Seele. Denn auch sie würde Beths Tod mit ansehen müssen.
Ich werde mich nicht bei dir entschuldigen, Elena – ich konnte es nicht zulassen, dass du mich verlässt.
Die Ehrlichkeit und Leidenschaft in seinen Worten bewegten sie tief. Ich vergesse es nur immer wieder, und wenn es mir dann einfällt, dann schmerzt es umso mehr.
Wenn ihre Zeit gekommen ist, wird Beth zu Staub werden, aber sie wird in der Gewissheit sterben, dass ein Engel über ihre Kinder wacht.
Elena nickte kurz, und als sie dann in Jasons Augen blickte, bemerkte sie zum ersten Mal, dass seine Augen so schwarz waren, dass man die Pupillen kaum erkennen konnte. »Würden sich die Höflinge gegen Lijuan wenden, wenn wir ihnen beweisen, dass die Wiedergeborenen gar nicht unsterblich sind?«
Jasons Flügel raschelten, als er sie zusammenlegte, aber selbst in diesem hell erleuchteten Raum fand er noch Schatten, und nur mit Mühe konnte sie seine Umrisse sehen. »Vielleicht könnten wir ein paar von ihnen umstimmen, aber die meisten sehen in ihr eine Göttin. Sie folgen ihr blindlings.«
Und damit würden sie für Lijuan zu einem schier unerschöpflichen Nachschub für ihre Armee der Toten.
35
Erschöpft und befriedigt lag Elena in Raphaels Armen. Der Erzengel hatte Wort gehalten. Sie hatte geschrien – vor Leidenschaft. Und glücklich sank sie in einen friedlichen Schlaf. So friedlich, dass es eine Zeit lang dauerte, bis sie verstand, was sie hörte.
Tropf.
Tropf.
Tropf.
»Komm, kleine Jägerin. Koste.« Ein Finger an ihrem Mund.
Sie presste die Lippen zusammen, aber der Geruch drang trotzdem durch sie hindurch, heimtückisch, unaussprechlich. Nein! Ihr Verstand weigerte sich zu erkennen, was es war, lehnte ab, etwas zu begreifen.
Doch das Monster ließ ihr keine Wahl. »Schmeckt Belle nicht köstlich?« Seine Augen waren dunkelbraun, mit einem blutroten Kreis darum. »Ich habe dir etwas übrig gelassen. Hier.« Mit den Händen schob er die goldblonden Haare ihrer Schwester beiseite, entblößte das offene Fleisch ihrer Kehle. »Ich glaube, es ist noch warm.« Er vergrub das Gesicht in Belles Hals, seine Hände lagen auf den knospenden Brüsten.
Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Nein!« Dann stürzte sie sich wie eine Furie auf ihn und bearbeitete ihn mit Fäusten und Nägeln, Zähnen und Tritten.
Aber selbst eine geborene Jägerin kam nicht gegen einen großen Vampir an. Einen Vampir, der satt ist von Blut. Er spielte bloß mit ihr, ließ sie glauben, sie habe ihn verletzt. Und als sie einen Moment unvorsichtig war, sich keuchend von dem Kampf erholte … küsste er sie.
Röchelnd erwachte Elena.
Schwarze Flecken vernebelten ihr die Sicht, sie drohte ohnmächtig zu werden, bis der Duft von Regen und Meer in ihren Geist drang. Frisch und ungestüm und so ganz anders als das Grauen, das sie in ihrem Mund schmeckte, riss es sie aus ihrem immer wiederkehrenden Albtraum, sorgte dafür, dass sie wieder Luft bekam. Voller Verzweiflung
Weitere Kostenlose Bücher