Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
so zugetragen hat …« Tränen standen ihr in den Augen. »Dann ist er meinetwegen gekommen und hat einen Teil von sich in mir hinterlassen.«
»Nein.« Raphael drängte sie, ihm in die Augen zu sehen, die sich verdunkelten, bis nur noch Kobaltblau in ihnen war. »Wenn er dich gezwungen hat, das Blut deiner Schwester zu trinken« – seine Stimme durchschnitt den Schrei, den sie nun nicht länger zurückhalten konnte – »dann war es ein Teil von ihr.«
»Inwiefern ist das besser? Ich kann sie schmecken.« Sie griff sich an die Kehle. »Es war dickflüssig, schwer und voller Lebenskraft.« Wie eine Schlinge lag das Entsetzen um ihren Hals.
»Selbst meine Mutter«, sagte Raphael, schmiegte seine Hand um ihre Wange, »ganz gleich, was aus ihr geworden ist, hat mich nie für etwas verantwortlich gemacht, das nicht mehr zu ändern war. Deine Schwester hatte ein weitaus sanftmütigeres Wesen – sie hat dich geliebt.«
»Ja. Belle hat mich geliebt.« Sie musste es jetzt einfach aussprechen, es hören. »Sie hat es mir andauernd gesagt. Sie hätte mich nie ein Monster genannt.« Ihr Vater nannte sie so.
»Ich lasse es nicht zu, dass eines meiner Kinder zum Abschaum gehört!« Hände schütteln sie, schütteln sie so kräftig, dass sie kein Wort mehr herausbringt. »Erwähne ja nie wieder diesen Geruchsquatsch! Haben wir uns verstanden?«
»Erzähle mir von deiner Mutter«, sagte sie mit einem Mal, denn sie spürte, dass sie im Moment den Erinnerungen an jene Nacht, in der ihr Vater sie so gekränkt hatte, nicht gewachsen war.
Es passierte einen Monat nach der Beerdigung ihrer Mutter. Im Eifer des Gefechts hatte sie etwas zur Sprache gebracht, über das sie drei Jahre lang geschwiegen hatte. Ihre Jagdinstinkte waren die einzige Konstante in ihrem Leben, und sie hatte geglaubt, Jeffrey würde verstehen, dass sie etwas brauchte, woran sie sich festhalten konnte. Aber sein Zorn in jener Nacht … »Etwas Schönes«, fügte sie hinzu. »Erzähl mir eine schöne Geschichte über deine Mutter.«
»Caliane hatte eine himmlische Stimme«, sagte er. »Nicht einmal Jason kann so schön singen wie meine Mutter.«
»Jason – singt?«
»Er hat wahrscheinlich die herrlichste Stimme unter den Engeln, aber er hat schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesungen.« Auf Elenas fragenden Blick hin schüttelte er nur den Kopf. »Das sind seine Geheimnisse, Elena, nicht meine, und es ist nicht an mir, sie zu erzählen.«
Das verstand sie gut – Loyalität und Freundschaft waren schließlich keine Fremdworte für sie. »Hat er es von deiner Mutter gelernt?«
»Nein. Caliane war schon lange fort, als Jason geboren wurde.« Er lehnte seine Stirn an ihre, ihr Atem verschmolz miteinander. »Sie hat mir immer vorgesungen, als ich noch sehr klein war, kaum laufen konnte. Und wenn sie sang, hielt die gesamte Zufluchtsstätte den Atem an, denn ihr Gesang öffnete die Herzen, ließ die Seelen frei. Alle lauschten ihr … doch sie sang nur für mich.«
»Ich war«, fuhr er gedankenversunken fort, »so stolz auf dieses Vorrecht, das Vorrecht auf ihren Gesang. Nicht einmal mein Vater machte mir dieses Recht streitig.« Damals fing es mit seinem Vater schon an, bergab zu gehen, aber Raphael hatte auch noch schöne Erinnerungen an die Zeit, bevor er ganz dem Wahnsinn verfiel. »Mein Vater hat immer gesagt, meine Mutter singe so schön, weil ihr Lied aus reiner Liebe bestehe – einer Liebe, wie sie nur eine Mutter für ihr Kind empfinde.«
»Ich wünschte, ich hätte sie singen gehört.«
»Eines Tages«, sagte er, »wenn unsere Seelen wahrhaft miteinander verschmelzen, wenn du reif genug bist, werde ich meine Erinnerungen an ihren Gesang mit dir teilen.« Das war sein größter Schatz, ein größeres Geschenk konnte er ihr nicht machen.
Selbst in der Dunkelheit leuchteten ihre Augen, und er wusste, dass sie ihn verstand. Eines Tages.
Eng umschlungen verbrachten sie den Rest der Nacht. Mehr als einmal suchte sie Zuflucht bei ihm, und bereitwillig half er ihr zu vergessen.
Am nächsten Morgen ertappte Elena sich dabei, wie sie dem Engel, der neben ihr herging, immer wieder Blicke zuwarf – wie um sich zu vergewissern, dass es ihn wirklich gab. Sein Haar leuchtete wie die gleißende Sonne. Noch nie zuvor hatte sie solch hellblondes Haar gesehen, es war heller als ihr eigenes. Hätte sie die Farbe benennen müssen, so hätte sie sie als Weißgold bezeichnet, doch selbst das war nicht ganz richtig. Denn das Haar dieses Engels war farblos, es
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