Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
den Bolzen aus dem Flügel, während er sich um seine Schulter kümmerte. »Hinter der Mau…« Sie riss den Kopf hoch, als sie Holunderduft in die Nase bekam. Einen Moment später hatte sich ein reicher, bitterer Kaffeeduft zu ihm gesellt.
Sofort ließ sie das blutige Projektil fallen, rannte zu einer Treppe, die aus dem Hof nach oben führte, und verfluchte den Umstand, dass sie nicht senkrecht starten konnte. Hinter ihr erhob sich Aodhan in die Lüfte, und sie spürte den Aufwind, erreichte den höher gelegenen Pavillon, der den Vampiren als Versteck gedient hatte. Der Duft von Kaffee war sehr stark, der von Holunderbeeren war mit Blut versetzt.
Sie hatten die Treppe auf der anderen Seite nach unten genommen.
Elena trat ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und war im selben Augenblick schon in der Luft. Ein Hochgefühl ergriff von ihr Besitz, ein Rausch, den sie beim Fliegen jedes Mal aufs Neue empfand. Am liebsten hätte sie sich jetzt einfach der Luftströmung überlassen, aber sie widerstand der Versuchung. Sie blickte auf die Verbotene Stadt hinunter, die von hier oben sogar noch größer aussah, ein weitverzweigtes Labyrinth aus hoch und tief gelegenen Höfen, die durch zierliche Stege und Brücken miteinander verbunden waren, und sich immer wieder gabelnden Straßen, die schließlich zu eleganten Häusern und der Privatsphäre geschlossener Tore führten.
Über dem Haupthof traf sie in der Luft mit Aodhan zusammen. Seine Schulter blutete, einer seiner Flügel war verletzt, aber dennoch zu gebrauchen. »Sie haben sich unter die Höflinge gemischt.«
»Zeit für die Jagd. Gib mir Deckung!« Sie konzentrierte sich auf ihren Geruchssinn, entschied sich für den verletzten Vampir. Er wäre der Langsamere und somit leichter zu jagen.
Wie ein buntes Band wirbelten ihr die Gerüche um die Nase.
Veilchen. Üppig. Süß. Betörend.
Holz. Frisch geschlagen.
Sommerregen. Erfrischend.
Champagner und zerwühlte Laken. Schwer. Weiblich.
Dunkelrote, tropfende Holunderbeeren.
Von Jagdfieber gepackt, flog Elena dorthin, wo der Duft der Holunderbeeren herkam. Es war beinahe zu einfach. Der Vampir war in einen pfauenblauen Mantel gekleidet, trug einen Schal um den Hals und befand sich inmitten einer Gruppe von Höflingen. Der Schal war getränkt mit seinem Lebenselixier.
Gerade wollte sie Aodhan auf ihn aufmerksam machen, da ging ein Zucken durch den Vampir, und er fiel um, als erlitte er einen epileptischen Anfall. Bestürzte Schreie ertönten, und die anderen Höflinge umschwärmten ihn wie bunte Schmetterlinge. Elena landete neben dem Vampir, rüttelte ihn leicht und rollte ihn auf die Seite, blutiger Schaum quoll ihm aus dem Mund. »Halt ihm den Mund auf!«, rief sie Aodhan zu, der neben ihr gelandet war. »Wenn er sich an seiner eigenen Zunge verschluckt …«
Aber noch unter ihren Händen wurde der Körper reglos.
Vampire konnten eine Menge aushalten, aber dieser hier war tot, ein Werkzeug, das seine Schuldigkeit getan hatte. »Was für eine sinnlose Verschwendung.« Er war noch so jung. Wahrscheinlich noch nicht einmal ein Jahrzehnt lang ein Vampir gewesen. Seinem Gesicht nach zu urteilen, musste er bei seiner Verwandlung gerade mal Ende zwanzig gewesen sein. »Eine schöne Unsterblichkeit ist das.«
Mit eisigem Blick sagte Aodhan: »Verfolge den anderen! Ich komme gleich nach.«
»Wir brauchen die Leiche.«
Er nickte kurz.
Mit der Pistole in der Hand richtete Elena sich auf, witternd hielt sie die Nase in die Luft. Der Duft hatte sich verändert, Angst und eine unterschwellige sexuelle Erregung waren hinzugekommen. Angeekelt schob sie den Gedanken beiseite und machte sich zu Fuß auf die Suche nach dem zweiten Schützen.
Er war ziemlich weit gekommen, hatte den gesamten Hof hinter sich gebracht, einen Durchgang mit Schnitzereien, der auf einen sonnigen Platz mündete, passiert, Stufen erklommen, drei Brücken überquert und war dann in einen abgeschiedenen Teil der Stadt abgetaucht. An dem einzigen Baum, der weit und breit zu sehen war, hingen keine Lampions. Hier kokettierten keine schön gekleideten Frauen mit ihren Fächern. Und Musik war auch nicht zu hören.
Stattdessen saß ein weiblicher Engel auf der Marmorbank unter dem kahlen Baum, zu seinen Füßen ein Vampir. Und dann geschah etwas völlig Überraschendes. Eben noch hatte der Vampir heftig atmend vor dem Engel gekniet, und im nächsten Augenblick schon rollte sein Kopf auf Elena zu. Unvermittelt und ungerührt hatte der Engel ihm den
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