Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
können, aber immer noch nicht lange genug – also musste sie es sich für die Geheimnisse aufsparen, die sie vor der Welt und sogar vor sich selbst verbergen wollte.
Der Duft von Wind und Regen kehrte nicht sofort wieder. Aber ein anderer Duft überkam sie.
Ein sinnlich exotischer Moschusgeruch, durchsetzt mit einem Hauch seltener Orchideen.
Sogleich wurde ihr bewusst, dass der Duft nicht in ihrem Kopf war. Er hing in der Luft.
Adrenalin schoss ihr durch den Körper, sie ließ das Buch fallen und erhob sich, im selben Augenblick landete Michaela vor ihr. Der optische Eindruck war überwältigend. Elena verabscheute Michaela – das war einfach eine Tatsache, doch ihre Flügel waren von leuchtender Bronze, ihr Körper eine perfekt gestaltete Landschaft aus Kurven und Senken. Und ihr Gesicht … auf der Welt gab es wohl kein zweites, das so hinreißend war.
»Sieh an« – die vollen Lippen umspielte ein Lächeln, und Elena war froh, ihre Pistole mitgenommen zu haben – »da haben wir ja das kleine Mäuschen, das Raphael so ängstlich vor allen versteckt.« Der Erzengel betrat den Pavillon, die Flügel schienen im Licht der untergehenden Sonne zart bernsteinfarben. Heute trug Michaela eine elegante kamelhaarfarbene Hose mit einem Hauch von Oberteil, das nur aus einer zartweißen Stoffbahn bestand, die als Band um ihren Hals geschlungen und vorn über ihren Brüsten gekreuzt war, um schließlich auf dem Rücken, unter ihren Flügeln, in einem Knoten zu enden. Verlockend sexy.
Und Elena wusste ganz genau, wem diese Verlockung galt. Sie ballte die Fäuste, Eifersucht schnürte ihr die Kehle zu und vertrieb auch noch den letzten Funken gesunden Menschenverstand. »Ich wusste gar nicht, dass ich auf Sie eine solche Faszination ausübe.«
Michaela kniff die Augen zusammen. »Du bist jetzt ein Engel, Jägerin. Und du unterstehst mir.«
»Das glaube ich kaum.«
Der Erzengel warf einen Blick auf das Buch. »Das ist genau der richtige Umgang für dich. Der Halbengel entspricht mehr deiner Position.«
Mit anhören zu müssen, wie die kluge und liebenswerte Jessamy verunglimpft wurde, brachte das Fass zum Überlaufen. »Jessamy ist Ihnen zehnmal überlegen.«
Michaela machte eine abwehrende Handbewegung, als sei der Gedanke zu abwegig, um auch nur flüchtig in Betracht gezogen zu werden. »Sie ist dreitausend Jahre alt und verbringt ihre Zeit mit staubigen Wälzern, die nur für einen Krüppel interessant sein können.«
»Galen findet sie offenbar mehr als interessant.« Das war ein Schuss ins Blaue.
Aber er saß. »Galen ist noch grün hinter den Ohren und hat noch nicht gelernt, seine Feinde zu wählen.«
»Wollte er Sie etwa auch nicht?« Selbst Elena wusste, dass das eine extreme Provokation war. »Aber bestimmt hat er sich dazu von seinem Sire inspirieren lassen.« Alle Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, als sie quer durch den Pavillon segelte und krachend gegen eine Säule schlug. Es tat höllisch weh, aber gebrochen schien nichts zu sein.
Und dann kam die Rache. Eiskalte Angst kroch in ihr hoch. »Wo ist Illium?«
»Anderweitig beschäftigt.« Höhnisch lächelnd kam der Erzengel auf sie zu, jede seiner Bewegungen war pure Sinnlichkeit. »Du blutest ja, Jägerin. Wie ungeschickt von mir.«
Von dem Riss in ihrer Lippe hatte Elena einen Geschmack wie Eisen im Mund, doch sie nahm ihren Blick nicht von Michaela. Es war ihr nur allzu bewusst, dass die Dame ihr Spielchen mit ihr spielen wollte und genau aus diesem Grund hergekommen war. »Wenn Sie ihm etwas angetan haben, wird Raphael Jagd auf Sie machen.«
»Und wenn ich dir etwas antue?«
»Bringe ich Sie eigenhändig zur Strecke.« Mit dem rechten Fuß trat sie Michaela vor das Knie.
Zu ihrem Schrecken ging der Erzengel zu Boden. Aber mehr aus Überraschung, denn Sekunden später war Michaela schon wieder auf den Beinen, ihre Augen waren von einem unheimlichen Leuchten erfüllt. »Ich bin neugierig«, sagte der Erzengel in einem Ton, der gefährlich an Urams sadistische Art erinnerte, »was Raphael wohl mit demjenigen anstellen wird, der seinem kleinen Liebling wehtut. Ich lasse es darauf ankommen.«
Elena drückte den Abzug ihrer Pistole, die sie sofort nach Michaelas Sturz gezückt hatte. Nichts geschah. Dann lösten sich ihre Finger, einer nach dem anderen aus dem Griff, und sie ließ die Waffe auf den Marmorboden fallen. Im gleichen Moment spürte sie, wie etwas ihre Brust traf, doch als sie an sich hinunterblickte, war dort nichts zu sehen.
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