Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
das der Schnee widerspiegelte, war der Raum in Dunkelheit gehüllt. Doch Elena hätte gar kein Licht gebraucht. Sie betrat das Zimmer und ging zielsicher auf einen Gegenstand zu, der sich, sobald Riker die Wandbeleuchtung eingeschaltet hatte, als riesige honigfarbene Truhe entpuppte.
»Kann ein unsterbliches Kind ohne Luft auskommen?«, fragte sie flüsternd, während sie verzweifelt versuchte, den schweren Deckel zu öffnen.
»Eine Zeit lang«, war Raphaels beunruhigende Antwort, er kam ihr jetzt zu Hilfe, während Illium Wache stand.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hoffte Elena, dass sie sich getäuscht hatte, dass Sam nicht in dieser Truhe steckte. Doch nicht umsonst hatte der Kader Elena angeheuert, sie war die Beste – sie machte keine Fehler. »Oh Gott!« Instinktiv hatte sie hineingegriffen, doch nun, als sie den winzigen, zusammengerollten Körper richtig sah, hielt sie inne. »Ich tue ihm vielleicht weh.« So blutig, so verletzt war er.
»Wir müssen ihn zu den Heilern bringen.«
Nickend hob sie den zusammengekrümmten Körper auf ihre Arme. Sams Flügel waren zerschmettert worden, die zarten Knochen wohl allesamt gebrochen. Das meiste Blut stammte von einer Kopfwunde und einem Schnitt in der Brust. Der kleine Brustkorb bewegte sich gar nicht. Lieber Gott, bitte! »Lebt er noch?«
Raphaels Gesichtszüge waren wie versteinert, als er die Wange des Kindes berührte, und erst da sah Elena das Brandmal auf dem kleinen Gesicht, ein Sekhem.
»Ja, er ist am Leben.«
Außer sich vor Zorn ging Elena mit dem Jungen auf dem Arm an Michaela vorbei, doch diese sah Sam so voller Verzweiflung an, dass Elena spürte, wie ihre Füße sie plötzlich nicht mehr tragen wollten und sie einen Kloß im Hals bekam.
»Lebt er?«, fragte der weibliche Erzengel, als hätte sie kein einziges Wort von dem mitbekommen, was bislang gesagt worden war.
»Ja«, antwortete Raphael. »Er lebt.«
»Ich kann ihn nicht heilen«, sagte Michaela und betrachtete ihre Hände, als gehörten sie einer Fremden. »Raphael, ich kann ihn nicht heilen.«
Raphael trat auf Michaela zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Er wird schon wieder, Michaela. Aber jetzt müssen wir gehen.«
Elena stand schon mit Illium an der Tür, wartete nur darauf, dass sie Raphael die kostbare Ladung übergeben konnte. »Du bist schneller. Los!«
Ohne zu zögern, machte sich Raphael auf den Weg. Elena wollte ihm gerade folgen, als sie hörte, wie Michaela mit gebrochener Stimme sagte: »Das habe ich nicht getan.«
Erschüttert wandte Elena noch einmal den Kopf nach ihr um; Riker kniete neben seiner Herrin, die zusammengebrochen war, die prächtigen Flügel am Boden. »Ich habe es nicht getan«, wiederholte sie immerfort.
Riker strich Michaela das Haar aus dem Gesicht, sein Blick verriet bedingungslose Hingabe. »Sie haben es nicht getan«, redete er beruhigend auf sie ein. »Sie könnten das gar nicht.«
»Elena«, Illiums Lippen berührten ihr Ohr, »wir müssen gehen.«
Da wandte sich Elena endgültig zum Gehen und folgte Illium. Erst als sie draußen in der Eiseskälte standen, fing sie an zu reden. »Ich dachte, ich hätte sie durchschaut«, raunte Elena leise, denn sie wusste, dass um das Haus herum eine große Anzahl von Vampiren postiert war. »Für mich war sie das göttliche Biest und mehr nicht.«
»Zum großen Teil ist sie auch genau das.«
»Aber wie wir sie gerade erlebt haben … das war doch etwas ganz anderes.«
Illium zögerte. Und als er endlich sprach, hauchte er die Worte beinahe. »Engel haben nicht viele Nachkommen. Ein Kind zu verlieren ist für uns das Schlimmste.«
Michaela hat ein Kind verloren.
Wie ein Schock traf Elena diese Erkenntnis und veränderte ihr Bild von Michaela auf unerwartete Weise. »Dann hatte es dieses Ungeheuer gar nicht auf Sam abgesehen.« Irgendwie machte es die Sache noch schlimmer. »Es wollte Michaela schaden.«
»Oder«, merkte Illium an, »seine Ziele waren noch viel höher gesteckt. Titus und Charisemnon sind bereits wegen eines jungen Mädchens miteinander verfeindet. Charisemnon schwört, das Mädchen nicht genommen zu haben, Titus schwört das Gegenteil. Ob dieser Engel jetzt etwas damit zu tun hatte oder sich davon nur hat anregen lassen – Charisemnon und Titus sind jedenfalls völlig auf ihren Zwist fixiert und für nichts anderes mehr zugänglich.«
Langsam fügten sich die Einzelteile zusammen. »Ihm ist es nicht gelungen, Raphael und Elias gegeneinander auszuspielen, aber wenn du mich
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