Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
lagen.
»Vieles kann man ihr nachsagen. Sie ist grausam, boshaft, egoistisch«, murmelte Illium, während er weich auf Michaelas Terrasse landete, »aber dass die Königin von Konstantinopel einem Kind schaden würde, glaube ich nicht.«
»Du hast ihren Blick im Pavillon nicht gesehen.« Elena löste sich aus Illiums Armen und war nicht im Mindesten überrascht, als Riker vor der verschlossenen Tür erschien. Schon beim Landen hatte sie seinen Geruch wahrgenommen: vereistes Zedernholz, ungewöhnlich und nicht so leicht zu vergessen. »Hallo, Riker.« Es kostete sie einige Mühe, ihrer Stimme keine Gefühle anmerken zu lassen, denn das letzte Mal, als sie Michaelas Lieblingswächter gesehen hatte, hing er an der Wand, und ein abgebrochenes Tischbein war durch sein Herz gespießt, doch das Mal davor hatte er ihr übel mitgespielt.
Kaltblütig wie ein Reptil starrte Riker sie an. »Sie sind in das Territorium meiner Herrin eingedrungen. Sie genießen keinerlei Schutz hier.«
»Ich bin auf der Suche nach Sam«, sagte Elena. »Illium versicherte mir, dass Michaela nie einem Kind etwas zuleide tun würde, also hoffe ich, dass sie uns die Erlaubnis erteilen wird, die Umgebung abzusuchen … falls der Vampir hier vorbeigekommen ist.«
»Meine Herrin bedarf Ihrer Versicherung nicht.«
Elena strich sich durchs Haar, versuchte ihre Worte zu mäßigen, doch die Zeit lief ihr davon. »Hören Sie«, sagte sie, »ich bin nicht hergekommen, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Und wenn Ihrer Herrin tatsächlich so viel an den Kleinen liegt, dann wäre sie sicherlich sehr ungehalten darüber, dass Sie uns hier aufhalten.«
Riker verharrte reglos, keine Sekunde lang ließ er sie aus seinen reptilienhaften Augen.
Sie durfte keine Zeit mehr verlieren, gerade wollte sie Illium bitten, doch einfach mit ihr über das Gelände zu fliegen, damit sie feststellen konnte, ob der Geruch hier irgendwo noch in der Luft hing, da griff Riker nach der Türklinke. »Meine Herrin gewährt Ihnen Zugang zu ihrem Haus.«
Überrascht folgte Elena Riker, Illium hielt sich hinter ihr. Michaelas Haus verschlug ihr den Atem, allein der Eingang hätte den Titel »Kunstwerk« verdient. Die Fliesen zu ihren Füßen waren aus Elfenbein und von einem feinen Netzwerk aus Quarz durchzogen, die Wandbemalung brachte jede Seele zum Klingen. Elena war beileibe keine Intellektuelle, aber selbst sie erkannte den Künstler. »Michelangelo?«
»Wenn er es war«, murmelte Illium, »dann muss er es im gleichen Moment noch vergessen haben. Kein Sterblicher darf je von der Zufluchtsstätte erfahren.«
Und trotzdem wusste Sara davon, dachte Elena. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Nur ihretwegen hatte Raphael eine Ausnahme gemacht, nie im Leben hätte sie gedacht, dass der Erzengel, den sie auf einem sturmgepeitschten Dach in New York kennengelernt hatte, zu einem solchen Schritt bereit gewesen wäre. »Tief in seinem Inneren weiß er es«, sagte sie sich und überprüfte ein Zimmer, das direkt neben dem Eingang lag.
Es war sauber. Während sie durch das Haus gingen, schnappte Elena die Gerüche mehrerer Vampire auf, doch nicht den Duft des Vampirs, den sie durch ein Meer mütterlicher Tränen in der kleinen Küche gewittert hatte. Aber sie hatten bislang ja auch erst einen kleinen Teil gesehen. Mit der Hand auf dem Geländer sah sie hoch zum Herzstück des Hauses. »Ich muss nach oben.«
»Sie werden sich von den Räumen meiner Herrin fernhalten.«
»Einverstanden.« Sollte Michaela diesen Vampir tatsächlich beherbergen, wäre es ohnehin sinnlos, einfach hineinzuplatzen und, bevor Sam in Sicherheit war, ihr eigenes und Illiums Leben aufs Spiel zu setzen. Lediglich einen Hauch dieses Duftes musste sie finden.
Doch der erste Stock war ebenso rein und makellos wie das Erdgeschoss. Jede einzelne Skulptur, auf die sie traf, hatte einen ihr angemessenen Standort und trug zum strahlenden Gesamteindruck des Hauses bei. Die Teppiche waren ein Feuerwerk von Farben. Als sie langsam über den rubinrot und beige gemusterten Teppich in der Nähe des zweiten Treppenaufgangs schritt, hatte sie den Duft plötzlich in der Nase.
In Schokolade getauchte Apfelsinen.
Elena erstarrte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und sprintete einen Gang entlang, den zu betreten ihr Riker ausdrücklich verboten hatte, doch ihr Instinkt überwog ihren Verstand. Sie folgte ihrer angeborenen Bestimmung, ihre Sinne waren darauf geschult …
Ein Arm legte sich um ihre Taille, zog sie an eine harte,
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