Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
hatte. Doch Marguerite hätte den Menschen, zu dem ihr Ehemann geworden war, heute nicht mehr wiedererkannt, und deshalb fand sie es in Ordnung.
Diese schale Erkenntnis hallte in ihrem Kopf wider, als sie die drei flachen Marmorstufen hinaufstieg und auf die Klingel am Haus ihres Vaters drückte – einem Haus, in das sie nie eingeladen worden war, in dem sie bis zu diesem Moment nie willkommen gewesen war. Die Klingel hallte im Inneren des Hauses wider, als wäre es leer. Eine Minute verging, dann zwei, ohne dass Schritte zu hören waren. Da sie sich nur zu gut vorstellen konnte, dass Jeffrey beschlossen hatte, sie vor dem Haus warten zu lassen, hatte sie sich gerade wieder zum Gehen gewandt, als die Tür sich öffnete.
Sie sah über die Schulter, einen bissigen Kommentar auf der Zunge. Doch sie schluckte ihn hinunter, als sie in die gefassten blauen Augen der zwanzig Jahre jüngeren Schönheit aus gutem Hause blickte, die ihr Vater im Herbst eines Jahres geheiratet hatte, als Elena noch im Internat gewesen war. »Guten Tag, Gwendolyn « , sagte sie mit der Höflichkeit, zu der Marguerite sie erzogen hatte. Sie hatte die zweite Frau ihres Vaters im Laufe der Jahre ein- oder zweimal zufällig getroffen, doch keine von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, ihre Beziehung über kühle Formalitäten hinaus zu vertiefen.
»Elena. Komm herein .«
Froh darüber, dass Gwendolyn zumindest darauf verzichtete, sie bei ihrem vollen Namen zu nennen, betrat Elena das Haus. Dabei war sie sich der Tatsache, dass die andere geflissentlich nicht auf ihre Flügel starrte, vollauf bewusst. »Ich hatte ein Dienstmädchen erwartet « , sagte sie, während sie sich in der lang gestreckten Eingangshalle umsah; sie war von kleinen, leicht beleuchteten Vitrinen gesäumt, bei deren Inhalt es sich ohne Zweifel um Kunstgegenstände von unschätzbarem Wert handelte.
»Es geht um eine Familienangelegenheit « , sagte Gwendolyn und zupfte dabei am Ärmel ihres leuchtend grünen Seidenoberteils herum.
Elena runzelte die Stirn, nicht über die Worte, sondern über die rastlose Bewegung – Gwendolyn war eine der beherrschtesten Personen, denen Elena je begegnet war. Doch jetzt, als sie sie genauer ins Auge fasste, bemerkte sie die dunklen Ringe unter ihren Augen und die roten Flecken auf dem satten Sahneton ihrer Haut. »Was ist denn los ?« , fragte sie, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass dies hier womöglich doch keines von Jeffreys Machtspielchen war.
Gwendolyn sah sich in der Eingangshalle um und trat dann näher zu ihr. »Ich weiß, dass du sie nicht als deine Schwestern ansiehst « , sagte sie mit leiser, eindringlicher Stimme, »aber bitte, du musst dich für mein Baby einsetzen .«
Elena wollte gerade fragen, was zur Hölle denn eigentlich los war, als sich am Ende der Eingangshalle eine Tür öffnete. Einen Augenblick später erschien Jeffreys hochgewachsene Gestalt. Er trug kohlrabenschwarze Hosen mit schwachen, marineblauen Nadelstreifen zu einem weißen Hemd, dessen Kragenknöpfe geöffnet waren – legerer gekleidet hatte sie ihn in ihrem ganzen Erwachsenenleben nicht gesehen.
Vorher … Sie erinnerte sich an ihre Träume, an den lachenden, mit Farbe bespritzten Mann, der sie in die Luft geworfen und wieder aufgefangen hatte, an einem sonnigen Tag, an dem sich die Düfte von frisch gemähtem Gras, Eis und Burgern vermischten. Lange vor dem Blut, lange vor dem Tod. Vor der Stille … und dem Schatten an der Wand.
Sie straffte die Schultern, um sich gegen den zerstörerischen Anprall der Erinnerungen zu wappnen, und sah ihm in die Augen, die wie immer von den farblosen Gläsern seiner metallrandigen Brille abgeschirmt wurden. »Warum bin ich hier, Jeffrey ?« Sie wusste, dass Gwendolyn jetzt nichts mehr sagen würde. Nachdem sie die beiden in der Öffentlichkeit erlebt hatte, wusste sie sehr wohl, wer hier die Zügel in der Hand hielt.
Es war nicht vergleichbar mit der Ehe, die Jeffrey mit Elenas Mutter geführt hatte – mit einer Frau, die ihren Mann ebenso oft aufgezogen wie geküsst hatte. Einer Frau, deren Körper überlebt hätte, doch deren Geist gebrochen worden war, gebrochen durch die Hände eines Serienmörders, der, angezogen von Elena, in ihre kleine Familie eingedrungen war. Das alte Schuldgefühl ließ ihre Beine schwer wie Blei werden und machte sie wehrlos in einer Situation, die aller Wahrscheinlichkeit nach in einen harten und unfairen Kampf ausarten würde – Zusammentreffen mit ihrem Vater endeten nie
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