Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
schien, doch dann ließ sie sie wieder sinken und ging neben ihm her. Anstatt die von Weinlaub überwucherte Tür zu benutzen, die direkt vor ihnen lag, begab sich Jason mit lautlosen Schritten zur anderen Seite des Palasts. Auf dem rutschigen Moos mussten sie ihre Schritte vorsichtig setzen.
Der Palast war so gebaut, dass er über dem Wasserspiegel lag, aber es war deutlich zu sehen, dass die Monsunregen der vergangenen Jahre stark genug gewesen waren, um ihn zu überfluten. Diese Überschwemmungen hatten braune Wellenlinien auf den verfärbten Marmorwänden hinterlassen. Vermutlich verfügte der See über einen Mechanismus, durch den das Wasser in Bäche und Kanäle abgeleitet werden konnte – so etwas hatte er in anderen Teilen von Nehas Ländern bereits gesehen. Dieser Palast und seine Umgebung jedoch waren seit über dreihundert Jahren verlassen, und Störungen in diesem System waren seitdem nicht mehr behoben worden.
Durch eine Tür fiel Sonnenlicht in das dahinterliegende Zimmer.
»Warte.« Vorsichtig trat er ein und spähte in jede der leeren Ecken, ehe er Mahiya mit einem Nicken aufforderte einzutreten.
»Hier ist nichts.« Enttäuschung ließ ihre Stimme bleischwer klingen, als sie den Schmutz und das Moos und die vertrockneten Schlammreste betrachtete, die das Hochwasser zurückgelassen hatte. Dank des einfallenden Sonnenscheins war die Luft zwar nicht feucht, aber aufgrund der Schmutzschichten hing ein muffiger, erdiger Geruch in diesem Raum, der ihnen verriet, dass er seit Jahrhunderten kein lebendes Wesen mehr gesehen hatte. »Die Möbel müssen aus Holz gewesen und verrottet sein.«
»Ja.« Er ging auf eine Tür zu, die im Dämmerlicht lag und tiefer in das Gebäude führte. »Wenn ich mich hier versteckt hielte, würde ich mich möglichst weit im Zentrum aufhalten.« Wo die Wahrscheinlichkeit am geringsten war, dass bei Nacht Licht nach außen drang.
Mahiyas Flügel streifte Jasons, als sie wieder ihren Platz an seiner Seite einnahm.
Die folgenden Zimmer waren ebenso kahl wie das erste. Ohne Möbel, Teppiche und Gemälde waren es nur heruntergekommene, hallende Höhlen. Trotzdem konnte sich Mahiya bei einigen anhand der Positionen der glaslosen Fenster und der längst zerstörten Türen vorstellen, wozu sie einmal gedient hatten.
»Es muss prachtvoll gewesen sein, als es bewohnt war«, flüsterte sie. »Bei Nacht sah es bestimmt wie ein Edelstein auf dem Wasser aus, wenn sich die Lichter auf dem See …«
Alarmiert von ihrem plötzlichen Schweigen folgte er ihrem Blick und sah eine Farbe. Tiefes Rot. Glatt und glänzend, ein Band, das vom Kleid einer Frau stammen mochte.
»Liebespaare«, raunte Mahiya, als sie den dekadent gefärbten Stoff aufhob, der nicht an diesen einsamen freudlosen Ort passte. »Sie benutzen diesen Ort vielleicht für heimliche Treffen.« Offenbar kämpfte sie gegen ihre Hoffnung an.
»Vielleicht.« Den meisten wäre es zu alt und unkomfortabel gewesen, aber er hatte junge Engel gekannt, die erstaunliche Dinge getan hatten.
»Es ist weich.« Sie rieb über das Band. »Es kann noch nicht lange hier sein, sonst wäre die Feuchtigkeit eingedrungen, und der Satin wäre beim Trocknen rau geworden.« Ihre Stimme war beinahe tonlos, und sie hatte die Flügel eng an den Rücken gelegt, um Jason auf ihrem Weg durch den Palast so viel Platz wie möglich zu lassen.
Zwei Zimmer weiter hielt er die Faust in die Höhe.
Mahiya blieb stehen.
Er lauschte, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen. Aber der Wind flüsterte weder Nivritis Namen, noch warnte er Jason vor einer Gefahr. Und doch nahm er etwas wahr, und im nächsten Augenblick wusste er auch, was.
Sinnlichkeit, luxuriös und kräftig. Ein Parfüm, wie es eine Frau tragen könnte.
Als er die Ursache der lautlosen Warnung identifiziert hatte, ließ er die Faust sinken, legte jedoch Schweigen gebietend den Finger an die Lippen. Mahiya nickte und blieb stumm, während er das Weinlaub in einem Türdurchgang teilte … und dadurch den Blick auf einen Raum freigab, der sich von den anderen so stark unterschied wie ein Rubin von einem Felsklumpen. Hier war der Marmor mit peinlicher Sorgfalt gereinigt worden, sodass die Wände trotz der ständigen Verschmutzungen glänzten. Licht fiel durch ein glasloses Dachfenster herein, das zur Hälfte mit Weinlaub bedeckt war. Regen hätte diese dünne Schicht leicht durchdringen können, aber zu dieser Jahreszeit war die Gefahr gering. Wer diesen Raum auch eingerichtet hatte, er oder sie
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