Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
machte sich offensichtlich keine Sorgen um Wasserschäden, weder an dem dichten, indigofarbenen Teppich auf dem Boden noch an den Kissen aus golddurchwirkter Seide, die auf dem Bett in der Mitte des Raumes verteilt waren.
An einer anderen Wand befand sich eine kleine Frisierkommode, Haarnadeln und Schmuckstücke lagen bunt durcheinander darauf. Davor stand ein Stuhl, auf dem sich vermutlich eine Frau zurechtgemacht hatte. »Das kann kein Vampir hergebracht haben.« Die Straße, die auf den Berg führte, lag nämlich unter einem Erdrutsch begraben, der schon so lange her war, dass an seinem zerklüfteten Abhang bereits knorrige Bäume wuchsen.
»Jason.«
Als er ihr bebendes Flüstern hörte, drehte er sich um und erblickte im Spiegel über der Frisierkommode Mahiya, die mit ihren Händen etwas umklammert hielt.
Einen Umschlag.
Nur ein einziges Wort stand darauf: Tochter.
***
Es war die richtige Entscheidung gewesen, an einen sichereren Ort zu fliegen, um den Brief zu öffnen, das wusste Mahiya. Aber als sie auf dem abgelegenen Feld landeten, auf dem nur vereinzelt Bäume wuchsen und wo es nichts gab als trockene Laubkugeln, die durch die endlos weite Landschaft rollten, da hatte sie das Gefühl, ihre Haut müsste jeden Augenblick zerspringen.
Dann waren sie da, und die Zeit war gekommen. Den Rücken an einen Baumstamm gelehnt, der zwar dürr war, aber trotzdem einen flirrenden, grauen Schatten warf, starrte sie auf das rote Siegel des Briefes. Der schwarzgeflügelte Engel, der nicht mehr ihr Feind war, stand als dunkler Wächter neben ihr. Schweigend ließ er ihr die Zeit, Mut zu fassen und das Siegel zu brechen.
Meine liebste Mahiya Geet,
ich war sicher, dass ihr diesen Brief finden würdet. Du und dein gefährlicher schwarzer Schatten. Zuerst wollte ich ihn für dich töten …
Mahiya unterdrückte einen Schrei und presste die Hand vor ihren Mund.
… aber als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass er das Einzige ist, was zwischen dir und Neha steht. Und das ist gut so. Nun, ich muss dir meine Anerkennung aussprechen. Du hast eine klügere Entscheidung getroffen als ich.
Unter dem Schmerz, der in diesem schlichten Eingeständnis lag, zog sich Mahiyas Herz zusammen.
Ich bedaure, dass ich nicht hier sein kann, um dich zu begrüßen, mein geliebtes Kind. Aber dieser Part ist beendet. Es war ein Test meiner Kräfte und Fähigkeiten. Auch war es eine Warnung, aber wir wissen beide, dass Neha viel zu hochmütig ist, um zuzuhören und zu begreifen.
Dieser Ort gehört dir – bleib fürs Erste hier, du bist hier in Sicherheit. Dein Meisterspion wird dich beschützen. Wenn er zu Neha zurückkehren muss, werde ich dafür sorgen, dass er unversehrt zu dir zurückkommt, dessen sei gewiss. Aber erst werden wir das letzte Spiel spielen, und ich werde gewinnen. Währenddessen darfst du nicht am Hofe sein. Neha würde dir die Kehle aufschlitzen und dir das noch schlagende Herz aus der Brust reißen, nur um mich damit zu quälen.
Du wirst nicht lange hierbleiben müssen. Schon bald werde ich dich in den Armen halten, wie eine Mutter ihr Kind halten sollte, während Nehas Herz blutet und ihr Volk in Panik und Schrecken umherirrt. Ich hatte dreihundert Jahre Zeit, meine Rache zu planen.
Nivriti.
34
Zitternd ging Mahiya zu Jason hinüber und schmiegte ihr Gesicht zwischen seinen starken, geschmeidigen und erstaunlich weichen Flügeln an seinen Rücken. »Ich weiß nicht, was ich denken soll.« Sie reichte ihm den Brief, ohne sich von ihm zu lösen. Er drängte sie nicht und versuchte auch nicht, sich umzudrehen, um sie in die Arme zu nehmen – als wüsste er, dass sie sich an seiner Stärke festhalten musste, bis die Welt aufhörte, sich um sie herum zu drehen.
»Der Brief ist etwas feucht«, sagte Jason, nachdem er die Zeilen überflogen hatte. »Aber an dem Wachs haftet noch immer ein leiser Hauch ihres Duftes, der auch in dem Zimmer war.«
Ihre Mutter war noch nicht so lange fort, dass sie ganz aus dem Palast verschwunden wäre. »Ich glaube, ihr Stolz hätte ihr nicht erlaubt, den Schlangen so etwas anzutun.« Aber daran, dass Nivriti von der unnötigen Grausamkeit gewusst hatte, zweifelte sie nicht. »Nach dem Mord an Arav muss sie den Palast am See verlassen haben. Wahrscheinlich hat sie jemanden von ihren Leuten zurückgelassen, der für zusätzliche Unruhe sorgen sollte.«
Jason richtete seinen Blick wieder auf den Brief. »Einen militärischen Angriff kann sie nicht planen – ganz egal, wie viel
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