Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
waren und sich entwickelt hatten, grundlegend unterschieden.
So wie er sich nicht vorstellen konnte, wie es war, nicht nach Belieben den Himmel berühren zu können, konnte sich Jessamy nicht vorstellen, was es bedeutete, allein zu sein. Vollkommen, absolut allein. Nicht für eine Stunde oder einen Tag, nicht für ein Jahr, sondern für Jahrzehnte.
Bis er verlernt hatte, zu sprechen und ein Individuum zu sein.
Diese endlose Einsamkeit hatte etwas in ihm verdorren lassen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, dessen Flügel zu schwer für seinen Körper waren; und anders als Jessamy glaubte er, dass dieser Verlust dauerhaft war. So unwiderruflich wie die Tatsache, dass das Atoll, auf dem er geboren war und auf dem seine Mutter begraben war, nicht mehr existierte. Es war von einem gewaltigen Erdbeben, ausgelöst von einem Vulkanausbruch unter Wasser, vernichtet worden. Es war, als hätten seine Eltern nie existiert, als hätte er diese Einsamkeit schon immer in sich gehabt.
»Wie es aussieht«, sagte Mahiya in die Stille hinein, »hast du gewonnen.« Sie hatte die Pause genutzt, um wieder die Maske jener Frau anzulegen, die bei Hofe aufgewachsen war – wo Gift fast immer mit einem honigsüßen Lächeln serviert wurde.
»Genug der Spiele.« Obwohl der Überlebenskünstler in ihm ihren erbitterten Willen bewunderte, konnte er nicht zulassen, dass sie die Oberhand gewann. »Triff deine Entscheidungen, und triff sie schnell.«
Ein leises Beben überlief ihre Haut, und er wusste, dass hinter ihrer störrischen Weigerung nachzugeben, Angst steckte. Jason mochte es nicht, wenn eine Frau Angst vor ihm hatte. Das brachte zu viele Erinnerungen zurück, die niemals verblassen würden, wie viele Jahre auch verstrichen. Seine Hände kribbelten, als hätte er an eine verschlossene Zimmertür getrommelt – in dem hoffnungslosen Versuch, hinauszukommen und das abzuwenden, was sich dahinter abspielte.
»Nein, du irrst d…«
»Lüg mich nicht an! Ich habe gesehen, wie du ihn angeschaut hast!«
Der Schrei hallte durch alle Zeiten, doch Jason hatte schon vor langer Zeit gelernt, mit den Dämonen zu tanzen, die ihn heimsuchten. Selbst als sich Mahiyas Angst scharf durch die Stille fraß und all seine Instinkte ihn anfauchten, zu zerstören, was ihr Angst bereitete, blieb er stumm.
»Du musst mir etwas als Gegenleistung geben.« Strenge Linien zeichneten sich um ihren Mund ab und ihre Schultern waren steif. »Ich kann nicht die wertvollste Information preisgeben, die ich besitze, ohne dafür etwas von vergleichbarem Wert zu bekommen.«
In diesem Moment verstand Jason, dass diese Prinzessin mit ihrer leisen Anmut gelernt hatte, aus ihrer Angst Stärke zu schöpfen, statt sich von ihr erdrücken zu lassen. In einem unbekannten, verborgenen Teil seiner selbst empfand er eine brennende Freude. Ein Gefühl, so roh und unerwartet und so stark, dass es ihn ganz bewusste Anstrengungen kostete, es unter Kontrolle zu bringen. Selbst danach loderte diese Freude weiter, ihre Mitternachtsflammen züngelten in seinem Blut.
»Wenn deine Information gut ist«, sagte er, während er trotz seiner heftigen Reaktion nachzudenken versuchte und zu dem Schluss kam, dass sie ihr Leben riskieren würde, um an dieser letzten Information festzuhalten, »werde ich mit Raphael sprechen.«
Hoffnung ließ ihr Gesicht in einem goldenen Licht erstrahlen. »Wird er …«
Jason würde seinen Handel nicht mit Lügen und Halbwahrheiten betreiben. »Kein Erzengel wird deinetwegen einen Krieg anfangen«, sagte er unverblümt, »ganz egal, welche geheimen Informationen du besitzt.«
Mahiya hatte das Gefühl, von innen heraus zu zerbrechen. Mit wenigen Worten hatte Jason gerade den einzigen kostbaren Funken Hoffnung zerstört, den sie trotz aller Erniedrigungen und Schmerzen gehegt hatte, während sie ihre gesamte Existenz in dem Bewusstsein verbracht hatte, dass ihre Zeit nur geborgt war. Das Schlimmste jedoch war, dass er bei alledem keinerlei Emotionen zeigte – als würde ihr Leben überhaupt nichts bedeuten. Und diesen Mann hatte sie berühren und erkunden wollen?
Sie kämpfte sich aus dem Abgrund hoch auf einen Turm aus Zorn und Stolz und dem quälenden Verlust von etwas, das sie nie besessen hatte. »Was ist dein Versprechen dann wert?«, fragte sie.
»Ein offener Treuebruch ist nicht die einzige Möglichkeit, das zu bekommen, was du willst.« Jasons Ton ihr gegenüber war schroffer, als er je gewesen war, und seine Augen waren so dunkel wie
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