Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
wegnehmen?«
Dieser Blick traf einen Teil von ihm, von dem er lieber vorgab, es gäbe ihn gar nicht. Aber er wich nicht zurück, wurde nicht weich. Er musste wissen, wen Mahiya mit Neha in diesem Raum gehört hatte. Wenn nämlich zutraf, was er befürchtete, würde die Welt vielleicht schon bald in einem unnennbaren Grauen versinken.
Die Prinzessin wandte sich ab, kehrte ihm den Rücken zu. Der anmutige Schwung ihrer Flügel über dem staubigen Erdboden stand in deutlichem Kontrast zu der unbeugsamen Steifheit ihres Rückens. »Ich werde bald sterben, wenn ich keinen Ausweg finde.« Die Worte waren so schroff wie das Land um sie herum. »Von sich aus wird Neha mich niemals freilassen, um mein eigenes Leben zu leben, und jetzt hat sie keinen Grund mehr, mich am Leben zu lassen – sie hat mich immer nur als Folterinstrument für Eris gebraucht.«
»Und als jemanden, den sie statt seiner bestrafen konnte«, sagte Jason. Alle Einzelteile, die er erblickt hatte, setzten sich zu einem hässlichen, pervertierten Ganzen zusammen. »Wohin willst du gehen?«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und präsentierte ihm zwei leere Handflächen. »Wohin kann ich gehen?« Aufgewühlter Zorn in jedem Wort. »Ich will nur ein Leben außerhalb dieses Gefängnisses aus Hass, und sei es in irgendeiner Hütte. Aber gegen Neha kann sich nur ein anderer Erzengel behaupten, also muss es jemand aus dem Kader sein.«
»Am denkbarsten wäre Lijuan.«
Blinde Angst ergriff sie, so entsetzlich und tief, dass er die seltenste all seiner Bewegungen machte und die Hand nach ihr ausstreckte, um ihren Oberarm zu drücken. »Mahiya.«
»Nicht Lijuan.« Ihre Stimme war heiser, als hätte sie geschrien.
»Du hast es schon einmal versucht«, vermutete er. Obwohl es nur eine flüchtige Berührung gewesen war, spürte er die Wärme ihrer Haut noch auf seiner Handfläche. »Was ist dabei geschehen?« An Lijuans Hof gab es tausend Schrecken, tausend fleischgewordene Albträume.
Mahiya lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baum, das Licht der untergehenden Sonne zeichnete ihr Profil nach und fing sich in ihrem Haar. »Es ist schwierig, ein Gespräch mit einem Mann zu führen, der alles sieht.«
»Du meinst, es ist schwierig, mich zu manipulieren, damit ich das sehe, was du mich sehen lassen möchtest.« In Wahrheit lag seine Stärke nicht darin, wie gut er ihr Verhalten interpretieren konnte, sondern darin, dass er akzeptierte, wie viel ihm möglicherweise entging. Selbst wenn er jemanden jahrhundertelang kannte, war er sich stets der Tatsache bewusst, dass er nur einen flüchtigen Blick auf den komplexen Bildteppich seines Innenlebens erhascht hatte.
Die Frau, die vor ihm stand, besaß ein aus komplizierten Mustern zusammengesetztes Herz und Emotionen, die er vielleicht niemals würde ergründen können, weil er dazu womöglich einfach nicht in der Lage war. Er konnte nichts weiter tun, als auf die Hinweise zu achten, die andere als selbstverständlich ansahen, und diese Hinweise zu einem Bild ihrer Gefühlswelt zusammensetzen. Er wusste, dass der Rest der Welt das anders machte, und er wusste auch, dass seine Unfähigkeit, auf dieser Ebene eine Verbindung zu anderen herzustellen, auf einen Makel in ihm zurückzuführen war.
Es hatte ihn so sehr gequält, dass er vor etwa hundert Jahren mit Jessamy darüber gesprochen hatte. Die sanftmütige Lehrerin der Engelskinder hatte sich Zeit genommen, um über seine Frage nachzudenken. »Ich glaube«, hatte sie zu guter Letzt gesagt, »du bist zu ebenso tiefen Empfindungen fähig wie alle anderen Unsterblichen. Vielleicht sogar zu noch tieferen. Dein Herz besitzt eine solche Kraft, dass es mir manchmal Angst macht. Und so, wie du deine Gefühle unter Verschluss hältst …«, ein eindringlicher Blick. »Eines Tages wird der Sturm losbrechen, dessen bin ich mir sicher. Bisher hattest du noch keinen Grund, das Risiko einzugehen.« Sie lächelte ihn bekümmert an. »Ich weiß, wie es ist, wenn man Schmerzen vermeiden will, also vertrau mir, wenn ich das sage.«
Jason hatte größten Respekt vor Jessamy und wusste, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Weil sie mit einem missgebildeten Flügel zur Welt gekommen war und deshalb nie eigenständig würde fliegen können, hatte sie einen Kummer erlebt, der für Jason unvorstellbar war. Das würde er niemals unterschätzen und nie für weniger wichtig erachten als jene Kräfte, die ihn geformt hatten. Aber er wusste auch, dass sie sich in der Art, wie sie aufgewachsen
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