Gillian Shields - Der Zauber der Steine
müssen, dass ich auch schwach bin. Dass ich mich nicht nur um die Sorgen und Nöte der anderen kümmern will. Auch ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ich liebe. Ich hasse. Ich bin wütend. Und meine Gefühle machen mir Angst. Sie stehen mir womöglich im Weg bei dem, was ich tun muss.
Die Sonne ist jetzt fast verschwunden, und langsam legt sich die Dämmerung über die Moors . Irgendwo dort draußen, im weiten Land, das ich so liebe, muss Evie sein. Der Feind hat sie sich geholt, sie ist eine Gefangene der verborgenen Welt. Nur ich kann sie retten. Es ist an mir zu handeln.
Wo ist mein Mut geblieben? Meine Tatkraft? Was soll ich tun?
Es gibt keine Antworten. Der Tag neigt sich seinem Ende zu, und ich muss mich entscheiden. Unter dem finster werdenden Himmel, der sich über den Hügeln wölbt, mache ich mich auf den Weg ins Tal des Todes.
Eins
D as hatte ich nicht erwartet. In all dem Chaos und der Unsicherheit der vergangenen Monate hatte ich gelernt, mich selbst mit noch so seltsamen Dingen abzufinden, und ich hielt mich für abgeklärt genug, dass mich nichts mehr aus der Bahn werfen könnte.
Aber dann kam sie.
Velvet Romaine.
Natürlich hatte ich schon von ihr gehört; jeder kannte Velvet Romaine. Die schillernden Details ihres sechzehnjährigen Lebens waren durch den Blätterwald der Regenbogenpresse gerauscht. Aber ich hatte nicht erwartet, sie in der Wyldcliffe Abbey School für junge Ladys auftauchen zu sehen. Wyldcliffe ist nicht gerade die Art von Schule, die Töchter von Rockstars anzieht. Die Töchter von Herzoginnen vielleicht, aber nicht ein schrilles, rebellisches Mädchen wie Velvet, das sich gegen alles auflehnt. Und dennoch: Als ich am ersten Tag des Sommerhalbjahrs in die Abteischule kam, war sie da und sorgte für Aufsehen. Eine protzige Limousine hatte vor dem altehrwürdigen gotischen Gebäude gehalten, und kaum war sie ausgestiegen, wurde Velvet auch schon von aufgeregten Schülerinnen und einer Horde Paparazzi umringt. Sie schien das Blitzlichtgewitter der Fotografen und die allgemeine Aufmerksamkeit regelrecht zu genießen. Dabei sah sie aus, als hätte sie sich für einen Auftritt in irgendeinem schmierigen Nachtclub zurechtgemacht.
Aber das soll nicht abwertend klingen. Denn: Hey, ich bin’s doch, Sarah Fitzalan, der bodenständige, fürsorgliche Typ, für jeden ein freundliches Wort, immer das Gute im Blick, allseits bereit, sich für die Underdogs einzusetzen. Sagt man jedenfalls.
Ich hatte die Rückkehr in die Schule voller Ungeduld herbeigesehnt. Nicht dass ich ein Genie wäre oder so. Der Unterricht in Wyldcliffe war es nicht, der mich zurück in das abgeschiedene Tal zog. Es waren auch nicht die verwunschenen wilden Moors , wo Ginster und Schlüsselblumen blühen. Die erwachende Erde rief nach mir, doch ich wandte meinen Blick von den Hügeln ab und dachte an nichts anderes als an mein Wiedersehen mit Evie und Helen.
Was sagen viele Mädchen über ihre Freundinnen? »Wir sind uns so nahe, dass wir Schwestern sein könnten?« Nun, Evie, Helen und ich sind tatsächlich Schwestern. Uns verbindet zwar keine Blutsverwandtschaft, dafür aber etwas viel Tieferes. Mystische, elementare Kräfte halten uns zusammen, in diesem Leben und darüber hinaus auch im nächsten. Es mag seltsam klingen, aber ich habe immer schon daran geglaubt, dass es Dinge im Leben gibt, die wir nicht verstehen oder die wir nicht sehen, und trotzdem sind sie da. Das Gefühl für einen Ort, für Stimmungen, Warnzeichen und Prophezeiungen – ich glaube, all das hat eine Bedeutung, einen tieferen Sinn. Ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele und daran, dass Tote zu uns sprechen können. Und als Evie damals als schüchterne Stipendiatin zum ersten Mal nach Wyldcliffe kam und sie Visionen von einem Mädchen aus längst vergangener Zeit hatte, habe ich sie nicht für verrückt erklärt. Ich habe ihr geglaubt. Ich habe ihre Geschichte und alles, was danach kam, akzeptiert.
Ich habe akzeptiert, dass das Mädchen aus der Vergangenheit Lady Agnes Templeton war, Evies Urahnin. Dass Agnes vor mehr als hundert Jahren die Geheimnisse des Mystischen Weges entdeckt hatte und eine Dienerin des Heiligen Feuers geworden war. Dass Agnes’ früherer Verehrer, Sebastian Fairfax, identisch war mit dem geheimnisvollen jungen Mann, den Evie heimlich traf. Dass Sebastian besessen war von seinem sinnlosen Streben nach Unsterblichkeit. Dass wir drei Schwestern die Elemente entdeckt hatten, die uns Kraft gaben: Wasser für
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