Gillian Shields - Der Zauber der Steine
pflückte einige von ihnen und flocht die feinen Stängel in mein Haar. Wir standen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber, als ob wir tanzen oder miteinander sprechen wollten. Aber wir schwiegen, erfüllt von neu erwachten Gefühlen. Er sah mich fragend an, dann fuhr er zärtlich mit seinen Fingern durch meine Haare bis in den Nacken. Unsere Lippen suchten und fanden sich. Als wir uns küssten, durchlief uns ein Zittern, so als könnten wir nicht glauben, dass dieses Glück wirklich uns gehörte. Ich meinte die Bäume atmen zu hören und fühlen zu können, wie das Gras wuchs, und der süße Duft der Glockenblumen war so berauschend wie Wein.
Im nächsten Moment verschwamm alles, und die Wiese verwandelte sich in einen morastigen Sumpf. Hinter den Baumstämmen tauchten bizarre erdfarbene Gestalten auf, mit unförmigen Körpern und aufgeblähten Köpfen, deren Anblick mich mit Abscheu erfüllte. Sie begannen nach mir zu grapschen und mich von Cal wegzuzerren. Ich glitt aus seinen Armen und musste ihn zurücklassen. »Nein!«, schrie Cal. »Komm zurück!« Dann veränderte sich sein Gesicht, und er streckte seine Arme wieder nach mir aus und schrie: »Maria … Maria, komm zurück! Fasst sie nicht an! Nein!«
Ich stimmte in seine Schreie ein: »Nein, nein, nein!« Dann wachte ich schweißgebadet auf. Ich musste laut geschrien haben.
»Sarah, was ist los?« Ruby saß kerzengerade in ihrem Bett und starrte mich aus ihren kurzsichtigen Augen besorgt an. »Alles in Ordnung?«
»Oh … ja, entschuldige. Ein Alptraum.« Ich fiel zurück in mein Kissen und wischte mir übers schweißnasse Gesicht. Immer noch sah ich die grapschenden knochigen Hände und die Verzweiflung in Cals Gesicht, als ich von ihm weggezogen wurde. Und ich hörte die verzweifelte Stimme, die Marias Namen rief.
»Was zum Teufel ist hier los?« Velvet funkelte mich von ihrem zerwühlten Bett aus an.
»Nichts, nur schlecht geträumt. Tut mir leid.«
»Das klang eher so, als ob du total hysterisch gewesen wärst. Na ja, du kannst ja nichts dafür.« Velvet gähnte und sah auf ihre Uhr. »Mist, es klingelt in einer Minute. Wir können also getrost aufstehen und uns auf einen weiteren wunderbaren Tag in diesem Irrenhaus freuen.« Sie stand auf, zog die Schubladen auf und warf ihre Klamotten wahllos auf den Boden. »Dieser Horrorladen macht uns alle wahnsinnig. Ich ertrage diese ätzende Uniform keine Minute länger. Wenn meine Eltern mich nicht bald hier rausholen, brenne ich den Schuppen nieder. Und das ist kein Witz.«
»Ich dachte, die Rolle des Bad Girls macht dir Spaß?«, sagte ich und versuchte die Verwirrung zu überspielen, die der Alptraum in mir ausgelöst hatte.
»Bitte, keine Beleidigungen«, antwortete Velvet affektiert. »Ein paar Schwachköpfe zum Ausflippen zu bringen und verknöcherte Jungfern in den Wahnsinn zu treiben, das ist keine große Sache.«
»Velvet, mach mal halblang«, warnte ich und setzte mich auf. »Du weißt nicht, was du damit anrichtest.«
»Ja und? Werde ich etwa bestraft werden? Darf ich dann nicht mit zum Schulpicknick oder was auch immer Miss Scratton sonst noch als Belohnung für brave Mädchen auf Lager hat?«
»Nein, es ist nur … Wyldcliffe ist anders. Hier geschehen Dinge, die nicht geschehen sollten.«
»Wie interessant«, spottete sie, »erzähl mir mehr.« Sie starrte mich mit ihren unergründlichen, funkelnden Augen an, und wieder fragte ich mich, was sie wohl alles wusste.
»Was hast du zu Helen gesagt, bevor sie aus dem Fenster stürzte?«, fragte ich.
»Ich? Gar nichts. Ich war nicht einmal in ihrer Nähe. Warum auch?«
Weil Sophie keine Lügnerin ist. Weil du in der Nähe warst, als deine Schwester starb und als das Feuer im Internat ausbrach, und als der Assistent deiner Mutter verletzt wurde. Weil ich dir nicht traue.
Aber es war hoffnungslos. Das alles konnte ich ihr nicht sagen. »Ich denke einfach, du solltest mit deinen Scherzen andere Menschen nicht verletzen, Sophie zum Beispiel«, sagte ich wenig überzeugend. »Du weißt gar nicht, was du damit anrichtest. Nach diesem Auftritt in der Ruine war sie völlig aufgelöst.«
»Allerdings, das stimmt«, fügte Ruby hinzu, »es ist unfair. Du bist reich und berühmt, Velvet, und alles, was mit dir passiert, kann dir ziemlich egal sein. Aber wir wollen die Schule hier abschließen und danach aufs College gehen oder so. Gute Zeugnisse und Beurteilungen sind wichtig für uns.«
»Ach, was mit mir passiert, ist egal?« Velvets
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