Gillian Shields - Der Zauber der Steine
tragen. Das werde ich nicht zulassen.«
Sie war kalkweiß im Gesicht und zitterte vor Wut. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ich hasste es, wenn arrogante Menschen wie Celeste sie als verrückt bezeichneten, aber jetzt hatte auch ich das Gefühl, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Aber war das nicht nachvollziehbar? Würde es nicht jedem so gehen, dem ein Schicksal wie Helens auferlegt war?
»Ist ja gut, Helen«, beschwichtigte ich, als ich bemerkte, dass einige Schülerinnen sie anstarrten, »ist schon gut.«
Ich schwieg und wartete ein wenig. Dann aß ich mein Frühstück, obwohl ich keinen Hunger hatte.
»Ich kann dich nicht davon abhalten, die Brosche zu tragen«, sagte ich nach einer Weile, »aber bitte sei vorsichtig. Wir wissen nicht, welche Macht sie sonst noch hat. Ich möchte, dass du in Sicherheit bist.«
»Ich bin in Sicherheit«, murmelte Helen, »aber was ist mit Evie? Wohin haben sie sie gebracht? Und Agnes hat nur gesagt, du sollst suchen? Nichts sonst?«
»Nein, nur das.« Ich seufzte. »Suche und du wirst finden. Ich hoffe, das stimmt.«
Ich erzählte Helen nicht, dass ich vor dem Frühstück zum Pool gegangen war, voller Angst und schon fast sicher, Evies toten Körper auf der Wasseroberfläche treiben zu sehen. Aber dort war niemand gewesen außer dem Gärtner, der den Rasen mähte und leise Selbstgespräche führte. Aber Josh hatte ja gesagt, dass sie nicht tot war, trotz des Bildes eines ertrunkenen Mädchens, das Agnes uns gezeigt hatte. Danach war ich zu Josh in den Stall gegangen. Er erzählte mir, dass sie am Fluss keine Spur von Evie gefunden hatten und er immer noch fest davon überzeugt war, dass sie lebte. Nach getaner Arbeit würde er noch einmal ins Moor reiten, um die Suche fortzusetzen. Das konnte ich Helen immerhin auch erzählen.
»Lass uns das gesamte Schulgelände absuchen, überall, wo der Zirkel früher aktiv war«, sagte ich zu Helen, »insbesondere bei der Krypta unter der Ruine, wo wir unseren ersten Kampf mit ihnen hatten. Ich gehe nicht in den Unterricht, sondern sehe mich dort als Erstes um.«
»Ich komme mit«, sagte sie spontan.
»Aber wenn wir beide fehlen, würde das zu viel Aufmerksamkeit erregen. Besser du gehst hin und entschuldigst mich mit irgendeiner Ausrede, ich müsste irgendetwas für eine andere Lehrerin erledigen oder so.«
Es läutete, und das Frühstück war zu Ende. Wir standen auf, um zu beten, anschließend reihten wir uns in den Strom der Schülerinnen ein.
»Ich gehe nur schnell die Post durchschauen«, sagte Helen, »vielleicht hat Tony – mein Vater – geschrieben.«
Wir gingen durch den Flur in die schwarz-weiß geflieste Eingangshalle. Auf einem Tisch mit polierter Platte wurde jeden Morgen die Post für die Schülerinnen ausgelegt. Helen fand den ersehnten Brief. Sie öffnete ihn, und ich konnte die ersten Zeilen lesen. Liebe Helen, Miss Hetherington rief mich an, um mir mitzuteilen, dass du einen Unfall hattest. Ich hoffe, es geht dir schon wieder besser. Ich habe mir Sorgen gemacht …
Helen stopfte den Brief in ihre Tasche. Sie sah zufrieden aus. »Ich schreibe ihm später zurück. Schau mal, ist das nicht für dich?«
Auf dem Tisch lag ein flaches Paket mit der Aufschrift Miss Sarah Venetia Rosamund Fitzalan, Wyldcliffe Abbey School for Young Ladies. Ich erkannte die auffällige Handschrift meiner Mutter und erinnerte mich wieder daran, dass ich ihr zu Beginn des Halbjahrs geschrieben und Fragen über Maria gestellt hatte. Das alles schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Erwartungsvoll griff ich nach dem Paket, obwohl mich irgendetwas warnte, es nicht in Gegenwart der anderen zu öffnen. Die Glocke läutete zur ersten Stunde, und Schülerinnen und Lehrerinnen hasteten durch die Halle, um in ihre Klassenzimmer zu gelangen. Ich blickte kurz auf das Porträt an der Wand. Und ich hatte den Eindruck, dass Lady Agnes mich aufmunternd musterte. Sie hatte mir das Bild von Maria gezeigt, und ich war mir sicherer denn je, dass es eine Verbindung zwischen Maria und all dem gab, was geschah. Dann kam mir in den Sinn, dass es Miss Scratton war, die das Gemälde an diesen Platz hängen ließ, damit es von allen bewundert werden konnte. Die gleiche Miss Scratton, die nicht hielt, was sie uns versprochen hatte. Wieder geriet meine Überzeugung ins Wanken, und für einen Moment packte mich die Panik. Wie sollte ich Maria finden? Und Evie? Hoffnungslos. »Suche«, hatte Agnes gesagt, aber es war, als würde ich ein einzelnes
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