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Gillian Shields - Der Zauber der Steine

Gillian Shields - Der Zauber der Steine

Titel: Gillian Shields - Der Zauber der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Band 3
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Blatt in einem riesigen Wald suchen.
    »Helen, bitte finde irgendeine Entschuldigung für mich, wenn du in den Unterricht gehst. Wir sehen uns später.« Ich rannte mit dem Päckchen unter dem Arm die Marmortreppe hinauf. Als ich am Schlafsaal vorbeikam, stieß ich mit Velvet zusammen. Sie trug Reitkleidung.
    »Pass doch auf!«, schnappte sie.
    »Oh, entschuldige …«
    »Geh mir einfach aus dem Weg!« Sie eilte die Treppenstufen hinunter. In ihren Augen lag ein unheilvolles Leuchten. Ein Bild kam mir wieder in den Sinn, ich sah schwarzen Rauch aus verlöschenden Flammen quellen, ich hörte verzweifelte Mädchen schreien und schluchzen. Mir war übel, und der Geruch nach verkohltem Holz und verglühendem Metall nahm mir fast den Atem. Im nächsten Moment waren die Bilder und Geräusche verschwunden, und ich war allein.
    Ich wäre Velvet am liebsten nachgerannt, um die Sache zu klären, aber ich musste mich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig war. Alle waren im Unterricht, deshalb bemerkte niemand, wie ich in den durch einen Vorhang abgetrennten Alkoven schlüpfte. Dann schlich ich mich die düstere Treppe zum Dachboden hinauf. Ich knipste die Taschenlampe an, die wir auf der ersten Stufe deponiert hatten. Niemand würde mich hier finden, geschweige denn den Inhalt meines Päckchens sehen. Erst würde ich mein Geschenk auspacken und mich dann auf die Suche nach Evie machen.
    Nachdem ich die Tür von Agnes’ Studierzimmer hinter mir zugemacht hatte, fiel mein suchender Blick auf die Regalbretter, auf denen sie die Zutaten für ihre Beschwörungsrituale aufbewahrte. Ich fand einen Karton mit verschiedenfarbigen Kerzen, wählte vier weiße aus und stellte sie auf den Schreibtisch. Vier Kerzen für vier Schwestern, vier Kerzen für vier Elemente, für die vier Elemente des Mystischen Kreises. Nachträglich kam mir die Idee, noch eine blutrote Kerze für Maria in die Mitte zu stellen. Dann zündete ich die Kerzen an und knipste die Taschenlampe aus. Ich setzte mich und riss das Paket auf. Unter mehreren Schichten Seidenpapier fand ich ein Kleid aus scharlachrotem Seidenstoff, das über und über mit Früchten und Blumen bestickt war.
    »Oh, das ist wunderschön«, seufzte ich und strich leicht über das feine Gewebe. Dann fiel mir ein, dass ich etwas Ähnliches schon einmal gesehen hatte: das rote Seidenband, dass Cals Mutter mir geschenkt hatte. Die gleiche Art von Stickerei. Das Kleid stammte von den Roma, da war ich sicher. Einen Augenblick lang vergaß ich alles andere und begann, voller Ungeduld den Brief meiner Mutter zu lesen.
    Liebste Sarah,
    ich hoffe, du hattest einen guten Start ins neue Halbjahr. Wie sieht das gute alte Wyldcliffe im Frühlingssonnenschein aus? Über deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Ich weiß, dass du seit jeher von Maria und unserer Verbindung zu den Roma fasziniert warst! Schon als Kind hast du immer wieder gefragt, ob ich dir etwas über Maria erzählen könnte.
    Ich schicke dir dieses Kleid und bin sicher, dass du es sorgfältig behandeln wirst. Es ist über hundert Jahre alt und gehörte Marias Mutter (deine Ururgroßmutter, stell dir das mal vor!). Es könnte ihr Hochzeitskleid gewesen sein, aber sicher bin ich mir nicht. Und ich glaube, der Kopfschmuck mit den ineinandergeflochtenen Blättern gehört dazu. Eigentlich wollte ich dir das Kleid erst an deinem 18. Geburtstag schenken, mein Schatz, aber da ihr ein Tanzvergnügen haben werdet (Oh Gott, bei uns gab es das damals nicht!), dachte ich mir, du könntest es bereits zu diesem Anlass tragen. Ich glaube, es wird wunderbar an dir aussehen, viel besser als jedes andere Kleid. Es wurde zur Erinnerung an eine längst vergangene Zeit aufbewahrt, und jetzt gehört es dir.
    Ich weiß leider nicht viel mehr über Maria, als ich dir bereits erzählt habe. Sie starb, als ich zwei oder drei Jahre alt war, ich habe sie deshalb leider nie richtig kennengelernt. Meine Mutter war sehr zurückhaltend, was Maria betraf, sie sprach nicht gerne über sie. Aber du weißt ja, wie puritanisch deine Großmutter war, wie alle Familienmitglieder der Talbot-Travers-Seite. Steif, starrsinnig und altmodisch. Ich wäre ihr so gerne nahe gewesen, aber das ging einfach nicht bei ihr. Auch deshalb habe ich mich bemüht, eine andere Mutter für dich zu sein, mein Schatz.
    Bevor Granny letztes Jahr verstarb, blickte sie noch einmal auf ihr Leben zurück und erzählte recht weitschweifig von ihrer Kindheit, dabei habe ich einiges aufgeschnappt.

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