Gillian Shields - Der Zauber der Steine
war. Ich nahm die eiskalte Hand, küsste sie, und ihre Muskeln entspannten sich. Die Faust öffnete sich und gab den Blick auf einen runden Gegenstand frei. Obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, wusste ich sofort, was es sein musste. Es war die Brosche, die Mrs Hartle nach Helens Geburt verschenkt hatte, in Größe und Form identisch mit dem Mal auf ihrem Arm.
Ich erinnerte mich an die Worte aus dem Buch: »Woher solche Zeichen kommen? Viele Gelehrte halten sie für Zeichen eines großen Schicksals, mit dem Tod im Gefolge.«
Ein großes Schicksal. Ein unscheinbares Schmuckstück, oder was immer es auch sein mochte, hatte Helen ins Unglück gerissen, dachte ich. Ich griff nach der Brosche und untersuchte sie. Zeigte das Muster in der Mitte des Kreises zwei gekreuzte Klingen oder ein stilisiertes Flügelpaar? War das ein Zeichen für Gefahr? Und wie und warum hatte sich ein identisches Abbild davon auf Helens Arm gebildet?
Eine Sekunde lang glaubte ich die Flammen auf Agnes’ Hand tanzen zu sehen, genau wie in Helens Vision. Ein abwegiger Satz kam mir in den Sinn: Bekämpfe das Feuer mit Feuer. Ich nahm die Brosche und legte sie vorsichtig deckungsgleich auf das Mal auf Helens Arm, drückte sie in die Haut wie ein Siegel. Plötzlich setzte sich Helen auf, die Augen vor Schmerz weit aufgerissen.
»Aaah! Das tut weh! Aaah!« Sie fasste an ihren Arm. Das Mal war feuerrot, als ob es lebendig und wütend wäre. Aber dann, im nächsten Moment, schlang Helen die Arme um meinen Hals und schluchzte: »Danke! Oh, Sarah, ich danke dir so sehr. Ich wäre nach dem Sturz so gerne zurückgekommen, aber es ging nicht. Sie hielt mich fest.«
»Wer?«, fragte ich. »Deine Mutter? Oder Velvet?«
Helen starrte mich aus schreckgeweiteten Augen an. »Nein, nein. So war es nicht.«
»Aber was ist passiert? Wer war es denn dann?«
»Ich war an einem düsteren und geheimnisvollen Ort«, flüsterte Helen mit schwacher Stimme, »und jemand hielt mich gefangen.« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und hauchte: »Es war Miss Scratton.«
»Miss Scratton?«
»Ja, sie hat mich festgehalten. Sie arbeitet gegen uns.«
Vierundzwanzig
N ichts ergab mehr Sinn.
Der Rest der Nacht war wie ein Traum, der in Zeitlupe ablief. Zuerst gab es Ärger mit der Krankenschwester, die aus dem Schlaf geschreckt war, weil sie unsere Stimmen gehört hatte. Sie rauschte in das Krankenzimmer, fand mich auf Helens Bett sitzend und wischte wütend alle Erklärungsversuche über meine Besorgnis um Helen vom Tisch. »Ich habe noch nie so etwas Egoistisches erlebt wie dich! Mitten in der Nacht hier hereinzuplatzen! Helen braucht dringend Ruhe, so eine Aufregung kann einen Rückschlag auslösen.« Doch als sie Helens Puls gemessen und ihre Atmung kontrolliert hatte, war sie positiv überrascht und beruhigte sich ein bisschen. Helen flehte sie an, nicht böse zu sein.
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr Sarah mir geholfen hat«, bat sie, »es hat mir so gut getan, sie zu sehen. Erzählen Sie niemandem davon, bitte. Sie soll keinen Ärger bekommen.«
Schließlich war die Krankenschwester besänftigt, und ich durfte gehen. Aber ich konnte nicht einschlafen. Nichts ergab mehr Sinn. Helen war durch das Zeichen des Bösen geheilt worden, Miss Scratton hatte ihren Körper und ihren Geist in die Falle gelockt und bis an den Rand des Abgrunds gebracht. Unser Wächter war zum Feind übergelaufen. Jetzt bekam alles eine andere Bedeutung. Miss Scratton musste den Unfall und ihre Verletzung selbst inszeniert haben und war dann zu den Schwestern der Dunkelheit geflohen. Deshalb war sie auch nie im Krankenhaus angekommen. Es war alles Schwindel, und alles, was Miss Scratton uns erzählt hatte, war eine Lüge gewesen. Aber sie hat uns doch immer geholfen, ich habe an sie geglaubt.
Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich glauben sollte. Es konnte einfach nicht sein. Immer und immer wieder sagte ich mir: »Das Mal ist das Böse, und Miss Scratton steht auf unserer Seite«, bis ich völlig durcheinander war. »Das Mal steht auf unserer Seite … Miss Scratton ist das Böse … Das Mal ist Miss Scratton …«, irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein. Ich träumte ganz intensiv von Cal. Im Wald um uns herum war alles hell und warm. Die Natur war zu neuem Leben erwacht. Die Bäume trugen frische grüne Blätter, die Glockenblumenfelder leuchteten purpurfarben. Das saftige grüne Gras zwischen den Bäumen war mit weißen Blumen übersät. Cal bückte sich,
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