Gillian Shields - Der Zauber der Steine
hörte seine Schritte auf den schmalen Treppenstufen leiser werden. Als das Geräusch ganz verebbt war, wünschte ich, jedes Wort zurücknehmen zu können, aber es war zu spät.
Ich wollte weinen, aber wozu? Dann lieber die Trauer über den schrecklichen Verlust unterdrücken. Wenn Cal Wyldcliffe verlassen und zu seiner Familie zurückkehren würde, bekäme ich nie wieder die Chance, ihm alles zu erklären und mich mit ihm zu versöhnen. Lass ihn gehen, sagte ich mir und versuchte, meinen Ärger wieder hochkochen zu lassen. Wut war allemal besser als Verzweiflung. Unser Streit war auch seine Schuld, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Er war überempfindlich und zu ungeduldig gewesen. Ich sah erst auf das schmale Krönchen, das ich noch immer fest umklammert hielt, und dann auf das in weiche Falten fallende Kleid auf Agnes’ altem Schreibtisch. Für Cal würde ich das Kleid nun niemals tragen können, aber ich hatte immer noch die Krone. Sie würde mich zu Maria führen, und mit ihrer Hilfe würde ich Evie finden, davon war ich fest überzeugt. Ich würde Cal beweisen, dass ich Recht hatte, ich würde es allen zeigen.
Ich raffte meine Schätze zusammen und presste sie an mein Herz, aber selbst damit konnte ich die Leere nicht füllen, die sich in mir ausgebreitet hatte, nachdem Cal gegangen war.
Fünfundzwanzig
A n diesem Tag fand ich nichts. Die feuchte Krypta unter der Ruine wirkte verwaist, und auch in dem fantasievoll ausgemalten unterirdischen Geheimgang vom Schulgebäude zur Krypta begegnete ich keiner Menschenseele. Am Nachmittag war ich völlig erschöpft, nicht nur wegen der körperlichen Anstrengung und der ständigen Sorge, ja nicht gesehen zu werden. Der Schulalltag lief doch ganz normal weiter. Ich begann an mir zu zweifeln. Zum ersten Mal. Würde ich Evie überhaupt finden? Joshs Plan, die Polizei einzuschalten und alles zu erzählen, schien letztendlich die einzige Alternative zu sein. Natürlich würde es großes Aufsehen geben, eine Vermisstenanzeige, auch Evies Vater würde mit hineingezogen werden, außer sich vor Angst. Und ich würde sie nie wiedersehen.
Nein! So durfte es nicht enden. Das konnte ich nicht zulassen. Ich war stark, machte ich mir Mut. Ich war Sarah. Selbst ohne Cals Hilfe konnte ich es schaffen. Ich würde durchhalten. In Gedanken ging ich noch mal jeden Ort in der Schule durch, wo ich Evie oder wenigstens einen Hinweis auf sie finden konnte. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte doch noch das Buch. Vielleicht entdeckte ich dort eine Zauberformel, die mir weiterhelfen könnte. Finde, was verloren ist – die Antwort musste einfach in diesem Buch zu finden sein.
Ich hatte das Buch in das Versteck in Starlights Stall zurückgelegt, nachdem wir den heilenden Trank für Helen zubereitet hatten. Ich hoffte, dass ich dort nicht auf Cal treffen würde. Noch war ich nicht bereit, ihm zu begegnen. Und ich hatte Glück. Das gepflasterte Stallgelände schien verlassen. Vorsichtig schlüpfte ich in Starlights Box. Mein treues Pferd wieherte glücklich, voller Vorfreude auf einen Ausritt, aber ich legte ihm nur sanft die Hand auf den Hals und tätschelte ihn beruhigend. Dann schob ich das Heu auf eine Seite und hob den losen Backstein hoch, unter dem das Buch des Mystischen Weges versteckt war. Ich nahm es heraus und setzte mich im Schneidersitz auf den Boden, den Rücken an die Boxenwand gelehnt. Das in Leder gebundene Buch legte ich auf meine Knie.
Ich wollte es aufschlagen, aber es ging nicht, so sehr ich mich auch bemühte. Panik stieg in mir auf. Ich legte eine Hand auf das grüne Leder und sagte entschieden: »Öffne dich! Öffne dich mir!«, so hatte ich es auch bei der verschlossenen Tür zu Agnes’ Studierzimmer versucht. Das Buch sprang auf, die Blätter flatterten hin und her, als führe ein unsichtbarer Wind durch sie hindurch. Die Buchstaben, die Zeichnungen und Symbole, alles verschmolz zu einem verwirrenden Durcheinander, bevor wieder Ruhe einkehrte. Jetzt lag das Buch aufgeschlagen auf meinen Knien, aber was ich vor mir sah, waren keine Beschwörungsformeln oder Zaubersprüche. Mühevoll entzifferte ich den eng geschriebenen Text.
»Hab Acht! Du, der du Wahrheit und Licht suchst, sollst wissen: Es gibt jene, die sich gegen den Mystischen Weg auflehnen, sich an ihm reiben wie ein Schaf, das sich auf seinem Weg zur Weide an einem Eichenstamm reibt. Diese Frauen sind weder wahre Schwestern der Heiligen Elemente noch Dienerinnen der Schatten, doch
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